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Oder doch mehr Arbeit

Michael Seibel •    (Last Update: 24.07.2018)

Oder doch vielleicht mehr Arbeit?

„Die Ausgangshypothese zahlreicher Grundeinkommensbefürworter, dass Vollbeschäftigung ein Mythos sei und uns die Arbeit ausgehe, kann ökonomisch nicht überzeugen und ist widerlegt. Die „Kuchenvorstellung“ einer fest vorgegebenen Menge an möglicher Arbeit ist falsch, das zeigt nicht zuletzt die Entwicklung der Erwerbstätigkeit in Deutschland im letzten Jahrzehnt. Alle Menschen können bei entsprechenden Rahmenbedingungen einen wertvollen Beitrag zum Gemeinwesen leisten.“45

Gegen welche Gespenster wird in solch einem Einwurf eigentlich argumentiert? Es geht nicht darum, ob die Arbeit ausgeht, sondern wie sich die bezahlte Arbeit entwickelt. Wenn Guido Raddatz, von dem das obige Zitat stammt, morgens Brötchen holen geht, leistet er bereits einen wertvollen Beitrag zum kleinen Gemeinwesen seiner Familie. Es stimmt, Arbeit kann nicht ausgehen. Und selbstverständlich ist Arbeit kein Kuchen aus endlich vielen Stücken. Die Frage ist nur, ob ihn jemand dafür bezahlt und falls ja, wer und aus welchem Budget.


Auf die Marktwirtschaft eines einzelnen Staates heruntergebrochen bedeutet die sinkende Nachfrage nach Arbeitskraft, dass es unter einer kritischen Grenze, die von Staat zu Staat unterschiedlich ausfallen dürfte, für eine Volkswirtschaft keinen Sinn mehr macht, Einkommen an Arbeit zu binden. Es hat allerdings auch für die Kapitalseite keinen wünschenswerten Sinn, mangels privater Arbeitseinkommen die Binnennachfrage unter ein bestimmtes Maß sinken zu sehen und die Märkte tendenziell illequide zu machen.


Es trifft zu, dass in Deutschland die Zahl der Beschäftigten trotz zunehmender Arbeitsproduktivität erheblich angestiegen ist. In Westdeutschland stieg die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 1950 und 1990 von 19,6 auf 30,4 Millionen um 55,4%. Also erheblich. Die Steigerung lag deutlich über dem Bevölkerungswachstum, das in diesem Zeitraum bei 25,1 Prozent lag. Nach der Wiedervereinigung ging die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 1991 und 1994 zunächst von 38,7 auf 37,7 Millionen zurück. Nach einer Phase der Stagnation stieg die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 1997 und 2001 von 37,7 auf 39,5 Millionen. 2003 und 2005 fiel die Erwerbstätigenzahl nochmals leicht unter 39 Millionen, seit 2005 erhöhte sie sich jedoch Jahr für Jahr. 2008 lag sie das erste Mal bei mehr als 40 Millionen, 2011 das erste Mal bei mehr als 41 Millionen. Im Jahresdurchschnitt 2017 waren rund 44,3 Millionen Personen mit Arbeitsort in Deutschland erwerbstätig.

Das Wachstum der geleisteten Arbeitsstunden der Erwerbstätigen in Deutschland fiel im Zeitraum 2005 bis 2012 mit 4,2 Prozent jedoch schwächer aus. Die Erwerbstätigen arbeiteten also im Jahr 2012 im Durchschnitt weniger Stunden als im Jahr 2005. Der Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse – darunter Teilzeitbeschäftigung, befristete Arbeitsverhältnisse und Leiharbeit – ist in den letzten Jahren gestiegen, und der Anteil der Normalarbeitsverhältnisse ist gesunken.
Auch in den einzelnen Wirtschaftsbereichen hat sich die Erwerbstätigenzahl sehr unterschiedlich entwickelt. Im Bereich "Land- und Forstwirtschaft, Fischerei" ging sie zwischen 2005 und 2012 um 0,7 Prozent zurück und im Produzierenden Gewerbe fiel der Zuwachs mit 1,2 Prozent gering aus. Auch in dem Bereich "Handel, Gastgewerbe und Verkehr" (plus 4,9 Prozent), im Baugewerbe (plus 5,5 Prozent) und in den "übrigen Dienstleistungsbereichen" (plus 5,6 Prozent) lag der Zuwachs unter dem Durchschnitt (6,8 Prozent). Lediglich im Bereich "Unternehmensdienstleister" ist die Zahl der Erwerbstätigen mit einem Plus von 26,7 Prozent in den Jahren 2005 bis 2012 überdurchschnittlich stark gestiegen und damit allein für den Gesamtzuwachs verantwortlich.

Ein Vergleich der Entwicklung der Erwerbstätigenzahl mit der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zeigt, dass Wirtschaftswachstum eine notwendige Bedingung für die Steigerung der Erwerbstätigenzahl ist. Allerdings gilt für den Zeitraum 1991 bis 2012, dass das reale Wachstum des BIP länger als ein Jahr bei rund zwei Prozent oder höher liegen muss, damit eine nennenswerte Erhöhung der Erwerbstätigenzahl erfolgt. Die Zunahme der Erwerbstätigenzahl setzt dabei teilweise mit einjähriger Verzögerung ein. Zuletzt erhöhte sich das reale BIP in den Jahren 2010/2011 um 4,2 beziehungsweise 3,0 Prozent, das Wachstum der Erwerbstätigenzahl folgte 2011/2012 mit 1,4 beziehungsweise 1,1 Prozent.


Wirtschaftswachstum mit Exportüberschüssen, Umverteilung der vorhandenen Arbeit, Teilzeit, das sind die gängigen Rezepte, um bei der Einkommensverteilung über Arbeit bleiben zu können.

Es fragt sich, ob wir die Grenze, bis zu der die Einkommensverteilung über Arbeit funktioniert, jemals zu sehen bekommen. Bislang sind Wirtschaftswachstum und Umverteilung der vorhandenen Arbeit die Mittel der Wahl. Offenbar werden die möglichen Wirkungen neuer Prinzipien der Einkommensverteilung für gefährlicher gehalten als die Folgen eines ungebremsten Wirtschaftswachstums. Warum eigentlich?


Armutswirtschaft


Wie sähe denn neue Arbeit auf Märkten ohne viel Kaufkraft und ausreichendes Kapital aus? Sicher ist längst auch ein Markt aus Pfennigartikeln für Arme entstanden. Auch dort wird Geld verdient. Man hört, dass gerade dieser Markt in Afrika sogar zur Quelle einer gewissen Erholung der nationalen Binnenmärkte werden kann, weil er Kleinstunternehmern Marktzugang verschafft.


Eine Reihe gerade afrikanischer und asiatischer Volkswirtschaften dienen heute als billige Rohstoffquellen und stellen die Reservearmeen für unterbezahlte Arbeit. Wahrscheinlich sind solche Volkswirtschaften, die ihr Volk nicht ernähren, ohne korrupte Eliten unmöglich. Sie zeigen, dass sich ganze Wirtschaftsräume aus der Aufgabe verabschieden können, die Subsistenz der in ihnen lebenden Menschen zu ermöglichen.

Es ist vorstellbar, dass es nicht zur Entkopplung von Arbeit und Einkommen kommt und dass in Folge dessen Millionen von Menschen eben kein Einkommen mehr haben. Der entsprechende Druck ist für die Mehrheit der Weltbevölkerung Realität. Warum also nicht auch irgendwann bei weiter zunehmender Automatisierung für die Menschen in den Industrieländern? Warum sollte eine Volkswirtschaft jedermann ernähren müssen? Demokratische Kontrollinstanzen werden sich weiterentwickeln müssen. Die Gewerkschaften beispielsweise müssen ihre Klientel erweitern, etc.


Höhere Produktivität senkt per definitionem den Bedarf nach menschlicher Arbeitskraft und senkt die Stückkosten der erzeugten Produkte. Das durchschnittliche Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts in Deutschland im letzten Jahrzehnt gilt mit weniger als 1 % als unbefriedigend.46 Bei Wachstumsraten in dieser Größenordnung kommt es wie gesagt zu einem Rückgang der Beschäftigung.47


Die Dienstleistungslösung


Wenn der Primärsektor, Land- und Forstwirtschaft in Deutschland seit längerem keine nennenswerte Anzahl an Arbeitskräften mehr beschäftigt und der sekundäre Sektor, die Hersteller, permanent produktiver wird, wohin dann mit den nicht mehr benötigten Arbeitskräften?

Die naheliegende Antwort: in den tertiären Bereich, zu den Dienstleistungen. Arbeitskräfte wären also genügend da, und in der Tat wächst seit langem der Dienstleistungsbereich in allen Industrieländern stark an.

Der Dienstleistungsbereich, das sind z.B. Leistungen des Handels und Verkehrs, des Bank- und Versicherungsgewerbes, der freien Berufe (z. B. Ärzte, Steuerberater, Rechtsanwälte oder Architekten), des öffentlichen Dienstes, des Grundstücks- und Wohnungswesens, des Gesundheits- und Sozialwesens, der Bereiche Information und Kommunikation, Kunst und Unterhaltung.


1850 arbeiteten gerade einmal 10% der Deutschen im Dienstleistungsbereich, heute sind es ca. 65%. Wurden früher vorwiegend haushaltsnahe Dienstleistungen wie Handel und Gastgewerbe, in Anspruch genommen, liegt der Schwerpunkt heute bei den überwiegend unternehmensnahen Dienstleistungsbereichen, wie Finanzierung und Vermietung.

Der Anteil vom Handel und Gastgewerbe an den Dienstleistungsbereichen ist insgesamt von 1970 bis 2007 um 9,4 Prozentpunkte gesunken, während der Anteil der unternehmensnahen Bereiche „Finanzierung, Vermietung und sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen“ im gleichen Zeitraum

um 13,8 Prozentpunkte angestiegen ist. Parallel zur Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie sind neue Tätigkeitsfelder entstanden oder stark angewachsen wie Logistik und Leasing.


Dass unternehmensnahe Dienstleistungen auf dem Vormarsch sind, haushaltsnahe jedoch eher nicht, dürfte darauf hinweisen, dass Unternehmen verstärkt die Möglichkeit wahrnehmen, Mitarbeiter nicht permanent, sondern bei Bedarf zu beschäftigen, sei es um Personalkosten zu sparen, sei es, weil sie spezielle Dienstleistungen benötigen. Heute schließen z.B. größere Verlage, bei denen man das früher nicht für möglich gehalten hätte, reihenweise ihre Werbeabteilungen. Das Wachstum des Sektors unternehmensnahe Dienstleistungen dürfte demnach zwei Motoren haben: ein Arbeitsrecht, das es erlaubt, einen Teil der Dauerarbeitsverhältnisse selbst bei Mitarbeitern in Zeitarbeitsverhältnisse zu überführen, die ständig benötigt werden und damit Lohnkosten einzusparen und Löhne zu drücken und andererseits echte Veränderungen im Wesen eines Teils der verbleibenden Arbeit, die immer speziellere Kenntnisse und Leistungen bereithält, die nicht permanent genug benötigt werden, um sie im eignen Haus vorhalten zu müssen. Das beschreibt eine weitere Auffächerung der Arbeitsteilung. Arbeitsrecht und Arbeitsteilung sind die beiden Antriebe der Veränderung, einmal der Veränderungen im Wesen der Arbeit und zum anderen der Veränderungen der Bedingungen, unter denen gearbeitet wird. Beides verwebt sich miteinander, wenn z.B. ein Softwarehaus die Entwicklung einer neuen Softwarelösung in Einzelschritte aufteilt, die sie im Internet international ausschreibt und von einer Armee von Programmierern erledigen lässt, die als Einzelunternehmer oder in Kleingruppen über den Globus verstreut zusammenarbeiten, ohne jede gewerkschaftliche Vertretung, ja selbst ohne Kontakt untereinander.


Es ist eindeutig, wer diese Form der Arbeit bezahlt. Es sind die Unternehmen, die sie beauftragen. Es ist daher auch leicht zu verstehen, dass es in diesem Bereich zu einer vermehrten Nachfrage nach Arbeit durch Unternehmen mit zunehmend komplexeren Wertschöpfungsketten kommt oder durch Unternehmen, die ihre jeweilige Wertschöpfungskette in einem immer komplexeren Marktumfeld unterbringen müssen.

Was allerdings nicht verständlich ist, ist die Behauptung, auf diese Weise lasse sich mehr Arbeitsnachfrage generieren, als durch die Produktivitätssteigerung der Arbeit im herstellenden Bereich verloren geht. Es müssen also weitere Arbeitsplätze anderswo entstehen. Auffällig sind die sogenannten atypischen Beschäftigung, Leiharbeit und Minijobs. Von 1992 bis 2016 hat sich die Zahl der befristet Beschäftigten in Deutschland von 4,4 Mio. auf 7,6 Mio. fast verdoppelt.48 Das in Deutschland nicht unerhebliche Armutsrisiko, das inzwischen ca. 19% der Bevölkerung betrifft, heißt nichts anderes, als dass für einen erheblichen Teil der Bevölkerung keine Erwerbsarbeit verfügbar ist, von der sich der Haushaltsunterhalt bestreiten lässt. Es sind Arbeitsplätze, die zu den angebotenen Konditionen eigentlich kein Arbeitgeber anbieten dürfte, der nicht von vorn herein darauf spekuliert, dem Staat und damit allen anderen Steuerzahlern in die Tasche zu greifen, statt selbst ausreichend Lohn zu zahlen. Dieser Bereich ist vom Gesetzgeber durchaus so gewollt und steuerbar.


Wir unterscheiden also einen Bereich neuer Jobs, die die Unternehmen bezahlen und einen zweiten, in dem der Staat mitbezahlt. Dieser zweite Bereich an nicht vollwertigen Jobs füllt den Bedarf an Arbeitsplätzen jedoch immer noch nicht auf, der durch höhere Arbeitsproduktivität entsteht.


Dazu wird in der Öffentlichkeit heute ständig auf neuen Bedarf hingewiesen, der nicht von den Unternehmen kommt, sondern im Wesentlichen doch wieder aus dem haushaltsnahen Bereich, der aber tatsächlich seit langem schrumpft und nicht wächst. Man verweist z.B. auf wachsenden Bedarf in der Altenpflege. Dass solch ein Bedarf besteht und ständig größer wird, ist unbestritten. Aber wo Bedarf ist, ist noch lange kein Markt, bevor die Frage nicht beantwortet ist, wer dafür zahlt.

Die Unternehmen, in denen das BIP erzeugt wird, sind es nicht, und die Privathaushalte, deren Zahlkraft zwar nicht im Mittel, wohl aber im Median durch die mit der Produktivitätssteigerung verbundene Verringerung der Nachfrage nach Arbeitskräften zurückgeht, sind es auch nicht. Das Problem besteht nicht darin, ob das reichste Zehntel der Bevölkerung eine optimale Altenpflege bezahlen kann, sondern ob die anderen 90% es können. Es trifft zwar zu, dass steigende Produktivität letztlich steigenden Wohlstand bedeutet. Es trifft jedoch ebenfalls zu, dass weniger Arbeitsnachfrage den generierten Wohlstand ungleicher verteilt, solange Arbeitseinkommen die einzige Einkommensquelle neben Kapitaleinkommen sind und die wenigsten über Kapitaleinkommen verfügen. Der Markt für Altenpflege würde demnach kleiner, obwohl der Bedarf steigt. Solange eine vergleichsweise reiche Generation alt wird, lassen sich in vielen Fällen private Ersparnisse heranziehen, um die Kosten zu decken, aber das maskiert nur den Sachverhalt.


Dass damit längst eine staatliche Umverteilungsaufgabe gestellt ist, liegt auf der Hand und wird ebenfalls von niemandem bestritten. Aber bedarf die anstehende Umverteilung der Form eines bedingungslosen Grundeinkommens? Wir sagten ja oben, dass es beim bedingungslosen Grundeinkommen gar nicht in erster Linie um Armutssicherung geht. Warum sollte man dann nicht an den Stellen, wo nach und nach keine Lohnarbeit mehr angeboten kann, gezielt mit Bedürfnisprüfung und Versicherungsleistungen nach dem Modell des bestehenden Sozialsystems absichern?


Ein Argument dafür, dass das bedingungslose Grundeinkommen an jedermann auszuzahlen sei, ist ein Gleichheitsgrundsatz mit Prinzipiencharakter im selben Sinn wie der Gleichheit vor dem Gesetz oder der Gleichheit bei Wahlen der politischen Repräsentanten. Ein so verstandenes Gleichheitsprinzip kollidiert allerdings direkt mit der verfassungsmäßigen Eigentumsgarantie, da sich die Umverteilungsquote erheblich ausweitet.


Um am traditionellen Bild von der Rolle von Lohnarbeit als exklusiver Einkommensquelle der großen Bevölkerungsmehrheit festzuhalten, sind gleichzeitig zwei sich all zu leicht widersprechende Aufgaben zu bewältigen: ein Wirtschaftswachstum von mehr als 1% und staatliche Umverteilung.


Es gibt zwei grundverschiedene Wege, menschliche Arbeit als Kostenfaktor der Warenproduktion zu verkleinern, Automation und Lohndrückerei. Im Zuge von Automatisierung entfällt menschliche Arbeit zunehmend, ohne dass dadurch das BIP der Volkswirtschaft, die diese Entwicklung vorantreibt, kleiner wird. Wenn der Automatisierer billiger produziert als der Lohndrücker macht er das Geschäft. Was beim Modell einer Einprodukt-Volkswirtschaft plausibel ist, ändert sich nicht bei Multiprodukt-Volkswirtschaften, sie mögen noch so komplex sein. Der Automatisierer sitzt dabei dem Lohndrücker gegenüber am längeren Hebel. Es gibt letztlich immer ein Mindestmaß an Lohn, das der Lohndrücker an Menschen zahlen muss, die der Automatisierer von vorn herein nicht braucht.


Die Gesellschaft hat ein erhebliches Interesse an Automatisierern, auch wenn sie immer weniger Menschen beschäftigen, weil durch sie das BIP nicht sinkt. Aber wie effektiv ist es auf lange Sicht, Haushaltseinkommen weiter hauptsächlich über Arbeitsentgelte verteilen zu wollen? Was wären die Alternativen? Haushaltseinkommen setzen sich auch heute schon aus Kapitaleinkommen, Lohneinkommen und Transfers zusammen. Tragfähige Kapitaleinkommen sind für die Masse der Bevölkerung schlicht nicht möglich. Es bleiben nur Transfers. Voraussetzung ist, dass das BIP groß genug ist und dass das Steuersystem Wege findet, den Produktivitätszuwachs wirksam zu besteuern. Im Jahr 2015 nahm der deutsche Staat über 178 Milliarden Euro Lohnsteuer ein. Das entsprach mehr als einem Viertel der gesamten deutschen Steuereinnahmen, ist aber bei zurückgehender Arbeitsnachfrage offenbar nicht geeignet, den Produktivitätszuwachs zu besteuern.


Anzumerken ist ferner, dass die ökologische Herausforderung besteht darin, anzugeben, mit welchen Gütern in Zukunft in welchem Umfang Wirtschaftswachstum realisiert werden soll, ohne an ökologische Grenzen zu stoßen.49 Diese Frage kann hier nicht behandelt werden. Sie ist ein eigenes Thema.



Weniger ökonomische Gesamtleistung?


Verändert sich durch das bedingungslose Grundeinkommen die Motivation, einer Erwerbsarbeit nachzugehen? Ein oft wiederholter Einwand gegen das bedingungslose Grundeinkommen lautet etwa:


„Aus ordnungspolitischer Perspektive ist zunächst anzumerken, dass die für den traditionellen Sozialstaat konstitutiven Prinzipien der Subsidiarität und der Leistungsgerechtigkeit auf den Kopf gestellt würden. Während im Status quo der Einzelne ökonomisch zunächst für sich selbst verantwortlich ist und die Gesellschaft – insbesondere im Bereich der Grundsicherung und Sozialhilfe – nur in sozialen Notlagen und bei eigenem Bemühen der Betroffenen unterstützend eingreift, würde ein bedingungsloses Grundeinkommen die unbedingte Zahlungsverpflichtung des Staates an die erste Stelle rücken. Das Bedürftigkeitsprinzip würde durch Transferleistungen nach dem „Gießkannenprinzip“ ersetzt. Nicht mehr der Einzelne oder die Haushaltsgemeinschaft wären zunächst und primär für den eigenen Lebensunterhalt verantwortlich, sondern der Staat bzw. die Gesellschaft. Diese müssten mit einem finanziellen Geschenk in Vorleistung gehen und hätten keine Möglichkeit, eine Gegenleistung einzufordern. Zugespitzt formuliert: Das bedingungslose Grundeinkommen wirkt wie eine mehr oder weniger komfortable Hängematte, bei der man zwar versucht, die Menschen mit höheren Hinzuverdienstmöglichkeiten bzw. niedrigeren Transferentzugsraten als heute herauszulocken, letztendlich aber nur hoffen kann, dass es den Menschen in der Hängematte irgendwann langweilig wird und sie sich produktiven Tätigkeiten zuwenden.“50


Dass es durch ein bedingungsloses Grundeinkommen zu einem Rückgang der Arbeitsleistung kommen könnte, ist bereits aus formalen Gründen keine unbegründete Annahme, auch ohne die Polemik von der „Hängematte“. Bedienen wir uns der graphischen Darstellungsform, wie sie in der Mikroökonomie gern verwendet wird.



Angenommen, jemand habe die freie Wahl, wie lange er zu einem feststehenden Stundenlohn täglich arbeiten möchte, dann wird er abzuwägen haben zwischen dem Gehalt, das er beziehen möchte und der Freizeit, über die er verfügen will. Die Präferenzkurve 1 stellt diese Wahlmöglichkeiten schematisch dar, der Punkt A die resultierende Wahl, an dem die gewünschte Gehaltshöhe in einer für den Auswählenden akzeptablen Arbeitszeit erreicht wird.

Völlig unabhängig davon, wie die Präferenzkurve im einzelnen aussieht und wie hoch das angestrebte Gehalt ist, zeigt die Graphik, dass ein Grundgehalt bei gleichem Stundenlohn in jedem Fall die notwendige Arbeitszeit verringert, in der im Punkt A' das zuvor angestrebte Gesamtgehalt erreicht wird. Es resultieren mehr Freizeit und weniger Arbeitszeit.

Das Dreieck A, A', A'' symbolisiert das durch die Einführung des Grundeinkommens mögliche Gehalts-/Arbeitszeit-Dispositiv, für das eine neue Präferenz gefunden werden muss.

Jede Wahl zwischen A' und A'' ist optimaler als die Wahl von A vor Einführung des Grundgehalts, aber nur eine einzige, nämlich die von A'', erbringt die gleich große Ableistung von Arbeitszeit.


Wenn nur zwischen Gehalt und Freizeit zu wählen ist, führt ein Grundeinkommen für sich betrachtet mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer Einbuße an gesellschaftlicher Gesamtleistung.

Im oben dargestellten Fall wird es jedoch nicht dazu kommen, dass der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz aufgibt, denn er würde damit erheblich hinter seinem Wunschgehalt zurückbleiben. Bei keiner einzigen seiner Präferenzen ist ihm seine Freizeit soviel wert, dass er mit dem Grundgehalt auszukommen bereit wäre.


Es ist also zu fragen, ob es realistisch ist, dass die Auswahl nur zwischen Gehalt und Freizeit erfolgt und keine weiteren Kriterien hat. Die Frage ist dabei, was die gewählte Präferenzkurve bestimmt. Wie wäre es z.B., wenn die gesellschaftliche Anerkennung oder die persönliche oder die gesellschaftliche Wertschätzung der ausgeübten Arbeit erheblich steigt oder wenn die berufliche Aufgabenstellung aus Sicht des Mitarbeiters attraktiver würde? All das hätte Einfluss auf die Präferenzkurve.


Betrachten wir den relevanteren Fall, dass das Grundeinkommen in die Nähe des bisherigen Lohneinkommens käme. 1.615 Euro verdient der typische deutsche Single 2017 netto pro Monat, nicht im Durchschnitt, sondern im Median. D.h. von allen deutschen Singles haben genau die Hälfte mehr Nettogehalt zur Verfügung und andere Hälfte weniger. Ein bedingungsloses Grundeinkommen von z.B. 1.200 Euro wäre gemessen daran eine erhebliche Größe. Hier wären die Anreize, das Gehalt bei Weiterarbeit fast zu verdoppeln, erheblich, aber die Möglichkeit, die Arbeit aufzugeben oder erheblich zu reduzieren, wäre gegeben.


Das Argument von der „sozialen Hängematte“ ist derart hartleibig, dass es nicht schaden kann, es durch ein Gedankenexperiment auf die Probe zu stellen.

Man stelle sich vor, man sei durch eine Transferleistung vom Zwang befreit, Erwerbsarbeit zu leisten. Sie sind um die 30, gut ausgebildet und erfreuen sich bester Gesundheit. Würde man selbst seine Arbeit kündigen, die man erst vor ein paar Jahren mit viel Ehrgeiz und hohen Erwartungen begonnen hätte? Und wäre man andererseits mit 1000 oder 1500 Euro auf die Dauer zufrieden? Man stelle sich andererseits die Wahlmöglichkeit eines Schulabbrechers in der selben Situation vor.

Bereits damit zeichnen sich zwei Stellschrauben ab, die in die Entscheidung einfließen dürften, sich am Arbeitsmarkt zu engagieren oder nicht: die persönlichen Erwartungen an die Arbeit mitsamt den bildungs- und arbeitsmarktbedingten Chancen, eine entsprechende Arbeit zu finden und die Vorstellungen von einem ausreichenden Einkommen. Je schlechter die Chancen stehen, eine den eigenen Ansprüchen entsprechende Arbeit zu finden und je höher das zu erwartende Grundeinkommen, je größer die Wahrscheinlichkeit, dass angebotene Arbeit nicht angenommen wird.


Ein 5-Personenhaushalt mit 3 kleinen Kindern und z.B. 5000 Euro Grundeinkommenssumme wird mit einiger Sicherheit häufiger entscheiden, dass ein Elternteil zu hause bleibt und keiner Berufstätigkeit nachgeht, bis die Kinder groß sind. Aber auch das ist keineswegs sicher, sondern würde an persönlichen Präferenzen und an Qualität und Verfügbarkeit von Betreuungsangeboten gemessen. Eltern ohne abgeschlossene Ausbildung und mit entsprechend schlechter Berufsperspektive wären wahrscheinlich erheblich schwerer als heute dazu zu bewegen, eine Arbeit im Niedriglohnsektor anzunehmen. Mit oder ohne Ausbildung könnten Eltern außerdem auf die Idee kommen, ihr Einkommen durch weitere Kinder zu vermehren.


Die Vielfalt der Lebenssituationen, in denen sich der Entscheidungsspielraum mit einem Grundeinkommen verändern würde, ist unüberschaubar. Bereits ein und derselbe Mensch würde vermutlich in verschiedenen Lebensphasen verschieden wählen.


Wie kommen die Menschen an den Teil ihres Verhaltenskanons, der ihnen nicht durch ein Straf- oder Zivilrecht als Strafsystem oder durch Lohn als Belohnungssystem vorgeschrieben werden muss? Die polemische Formel von der „sozialen Hängematte“ unterstellt summarisch, dass menschliches Leben als ungerechtfertigte Konsumchance existieren will. Leben als Konsumchance ist einerseits ein grundlegendes Versprechen der Marktwirtschaft an den Einzelnen, aber in dieser Einseitigkeit ist es sediertes Leben und als das das Gegenteil von Selbstbestimmung. Die Vorstellung vom Leben als Konsumchance beschneidet das Menschenbild um den Gestaltungswillen, den man bei jedem Kleinkind ebenso findet, das gerade Laufen lernt, wie beim Greis, der auf Gartenarbeit besteht, auf dem letzten Rest autonomer Tätigkeit ganz am Ende, und zwar nicht, weil Tätig-Sein das Konsumieren-Dürfen rechtfertigt, sondern, um mit Hegel zu reden, an und für sich.




Anmerkungen:

45 Guido Raddatz: Das bedingungslose Grundeinkommen – Ein unhaltbares Versprechen, Stiftung Marktwirtschaft, 2013, S. 17

46 Die diesbezügliche volkswirtschaftliche Kenngröße ist der „Misery-Index“. „Er wird errechnet als eine einfache Addition der Inflationsrate und der Arbeitslosenrate, also der beiden „Grundübel“ einer Marktwirtschaft.“ Vgl. Bofinger S. 287

47 Vgl. Bofinger S. 274

48 https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/TabellenArbeitskraefteerhebung/AtypKernerwerbErwerbsformZR.html

49 In der Einleitung eines älteren Ökonomielehrbuchs lese ich: 1970 „war ein "Wachstum der Wirtschaft" eine nicht weiter diskutierte Selbstverständlichkeit. Das ist jetzt anders geworden. Wir haben kein bedeutendes Wachstum mehr, und wie üblich finden sich dann manche, die das schön finden. Dies ist Ausdruck des Rückschwungs von einer optimistischen, zukunftsbetonten Haltung der Mehrheit der Bevölkerung zu angsterfülltem Pessimismus und damit zu einer ideologischen Verketzerung der Wirtschaft überhaupt oder jedenfalls des Wirtschaftswachstums. Stillstand oder sogar Rückschritt erscheinen jetzt als "fortschrittlich". Das alles ist sozialpsychologisch (und ebenso individualpsychologisch bei den Vertretern dieser Ansichten) erklärlich, aber nichtsdestoweniger falsch. Die Folgen einer solchen Einstellung für das betreffende Land können nur katastrophal sein. Die Entwicklungsländer verstehen das intuitiv am besten, und so kann man ihnen mit solchen Ideen natürlich nicht kommen.
Die Berücksichtigung ökologischer Zusammenhänge im Wachstum ist schlechthin eine Selbstverständlichkeit. Wachstum heißt ja auch nicht, daß ständig mehr "hardware" produziert wird, jedenfalls dann nicht mehr, wenn ein vernünftiger Versorgungsstand erreicht ist. Dies ist allerdings nur möglich, wenn dem exzessiven Bevölkerungswachstum Einhalt geboten wird. Ist das geschehen, so bedeutet "Wirtschaftswachstum", daß relativ immer weniger Arbeit zur Befriedigung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung) eingesetzt werden muß und somit immer mehr Personen für Bildung, Entwicklung, Forschung und andere Dienstleistungen und zur Produktion von Substitutionsgütern für erschöpfbare Ressourcen freigesetzt werden. Eine solche Entwicklung anhalten zu wollen, ist schlechterdings Unfug und Selbstzerstörung. Sie läßt sich ja auch zum Glück auf Weltniveau nicht anhalten.“
(Wilhelm Krelle, Theorie des wirtschaftlichen Wachstums, Berlin Heidelberg 1985, 1988, S.VII f. )
… „Wachstum heißt ja auch nicht, daß ständig mehr "hardware" produziert wird“
…schön wäre, wenn inzwischen näher bestimmt wäre, was das wohl heißen soll. Der Kunstmarkt scheint so ein Fall zu sein, wo Wachstum aus etwas rein Geistigem resultiert, das so gut wie keine Ressourcen verbraucht. Ist das gemeint?

50 Guido Raddatz: Das bedingungslose Grundeinkommen – Ein unhaltbares Versprechen, Stiftung Marktwirtschaft, 2013, S.15



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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