Selbstbestimmung - Autonomie
Michael Seibel • (Last Update: 24.07.2018)
Der zweite Begriff stammt ebenfalls aus der griechischen Tradition31, wird aber in der Moderne seit der Renaissance32 und später durch seine emphatische Bestimmung durch Kant, Schiller und Fichte auf neue Weise in Ethik und Politik wirksam: die Selbstbestimmung des Handelnden.33 Für das Handeln hat die Selbstbestimmung die gleiche grundlegende Funktion wie das Selbstbewusstsein für das Wissen. Selbstbestimmung des Einzelnen meint, dass der Einzelne fähig ist, zu denken, dass die konkreten Verhältnisse, in denen er lebt, durch ihn veränderbar sind und dass es ihm möglich ist, entsprechend seinen persönlichen Wertschätzungen zu handeln. Das erfordert, dass dem Einzelnen der legale Raum dazu gelassen wird. Die politische Herrschaft über ihn ist daher zu begrenzen.34 Dennoch ist m.E. die Forderung nach Selbstbestimmung missverstanden, wenn man darin eine gleichsam persönliche Forderung des Einzelnen an die unpersönliche Gesellschaft sieht. Das Private ist wie schon oft betont unmittelbar politisch.
Menschen in Gemeinschaft, ob im lockeren Kollektiv oder einer Gesellschaft entscheiden anhand von Kriterien, wer dazugehört und wer nicht. Die Kriterien dabei sind unterschiedlich stabil und unterschiedlich rigide.35 Jede gesellschaftliche Veränderung ist mit der kulturellen, rechtlichen und politischen Neuverhandlung der Erwartungen der Gesellschaft an den Einzelnen verbunden. Der Übergriff auf den Einzelnen ist in diesem Sinn der zentrale konstitutive Akt bei der Selbstverfassung von Gesellschaften. Es ist die Gesellschaft und es sind nie die Einzelnen, die die Teilhabechancen verteilen.
Insbesondere sind Menschenwürde und Autonomie Ideen und keine Eigenschaft, die jemand zukommt oder nicht wie seine Haarfarbe oder Körpergröße. Wenn es auch der Einzelne ist, der Menschenwürde einfordert, heißt das nicht, dass sich der Einzelne gleichsam selbst mit Würde ausstatten kann. Ich habe nicht Würde, weil ich selbst meine, Würde zu haben, sondern weil mir die anderen Würde zusprechen. Ich kann höchstens fordern, dass mir Würde zugesprochen wird, und es kann weitgehender Konsens darüber bestehen, dass diese Forderung zurecht besteht.
Durch die Idee der Menschenwürde wird nun in der Moderne der politischen Herrschaft über den Einzelnen eine absolute Grenze gesetzt. Diese Grenze kann weder ein Einzelner noch eine Mehrheit von Einzelnen ziehen, sondern es kann sich nur um eine besondere Setzung im Akt der Selbstverfassung eines sich bildenden Kollektivs handeln, oder konkret um einen Akt der Selbstbegrenzung des modernen Verfassungsstaates.36 Mit dem Begriff der Menschenwürde gibt der Gesetzgeber dem Menschen eine Autonomie, die kein einziger Mensch an sich selbst jemals hätte. Diese Setzung ist insofern jederzeit problematisch, als sie Kollektive, Gesellschaften, Staaten, ihre informelle oder formelle Verfassung grundsätzlich jederzeit revidieren können.37 Wie labil diese Setzung ist, erleben wir gerade in mehreren Staaten. Demokratie – und der Gedanke der Menschenwürde als ihr Kerngedanke – muss kulturell und politisch massiv verteidigt werden.
Autonomie wird also ausschließlich in dem Umfang gewährt, wie sich die Polis, der Gesetzgeber selbst beschränkt. Wenn die Autonomie des Einzelnen als Selbstbeschränkung des Gesetzgebers in die Gesellschaft kommt, ohne dass sich der Gesetzgeber damit selbst aufgibt, sondern sich ganz im Gegenteil als eine bestimmte Staatsform realisiert, dann heißt das, dass die Gemeinschaft ihre Ziele, welche auch immer das sein mögen, gerade durch die Geltung verwirklicht, die sie dem autonomen Einzelnen gibt. Gerade weil der Einzelne weitestgehend denken und tun darf, was er will, weil ihm vom Gesetzgeber ein maximaler legaler Handlungsrahmen gesteckt wird, kommt das heraus, was der Gesetzgeber will, seine eigene Stabilität. Verfassungen, die die Autonomie des Einzelnen zentral setzen, sehen also darin gerade nicht ihre eigene Selbstabschaffung.
Nach dem zweiten
Weltkrieg dürfte Ludwig Erhard den problematischen Gedanken, der
für die meisten Deutschen hinter der Identität von
gesellschaftlicher Stabilität und persönlicher Autonomie
steckt, am klarsten ausgedrückt haben: Wirtschaftswachstum durch
Wettbewerb = Wohlstand für alle.
Der Gedanke wird aus der
Nachkriegserfahrung, deren lebendige Zeugen wir heute schon nicht
mehr sind, auf besondere Weise plausibel.38
In der Nachkriegssituation wird besonders deutlich, dass es die
Einzelnen sind, die in Hunger und Kälte zunächst auch ohne
funktionierenden Staat mit dem Wiederaufbau beginnen und dass es
zentrale Staatsaufgabe ist, die Wiederherstellung der elementarsten
Lebenschancen der Menschen, Nahrung und Wohnen zu befördern.
Bei der Bundestagswahl von 1949 ist die Frage der Autonomie des Einzelnen unter zwei Gesichtspunkten sogar zentrales Streitthema zwischen CDU und SPD. Die Menschenwürde wird dem totalitären Staat der Nazis gegenübergestellt. Totalitarismusabwehr ist der eine Grund, von dem aus für die Autonomie des Einzelnen argumentiert wird. Adenauer argumentierte besonders deutlich aus dieser Perspektive. Autonomie des Einzelnen wird andererseits als Voraussetzung der freien Konkurrenz gesehen und diese wieder als Quelle der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Das ist die andere Hauptperspektive, die Ludwig Erhard besonders deutlich artikulierte.39
Die SPD Kurt Schumachers teilt die Totalitarismuskritik, befürchtet jedoch bei Verzicht auf zentrale Planung Ineffizienz und eine Restitution der wirtschaftlichen Machtverhältnisse der Vorkriegszeit. Die Frage: Planwirtschaft oder soziale Marktwirtschaft und damit die Frage, wie selbstbestimmt soll der Einzelne handeln, wenn er wirtschaftlich handelt, spielte im Wahlkampf 1949 eine überragende Rolle.40 Sie war zugleich mit einer kulturellen Kontroverse verbunden, um die Frage von Gemeinschaftsschule oder konfessioneller Erziehung. Bekanntlich reklamierte die CDU/CSU spezifisch christliche Wurzeln als gemeinsames ethisches Standbein gegen den Totalitarismus und als Quelle der Arbeitsethik.
Das Leitbild von der Leistungsfähigkeit des Einzelnen wurde also in Deutschland nach dem Krieg in völlig anderen Verhältnissen gezeichnet, als denen, in denen wir heute nach einem bedingungslosen Grundeinkommen fragen. Und doch gibt es eine gewisse Parallele darin, dass die Frage nach kulturellen Standards auch heute gestellt wird.
Zu fragen ist in der Tat: Was begründet das Zutrauen in den Erhalt der Leistungsbereitschaft, wenn jeder bezahlt wird, bevor er etwas leistet? Der Erhalt der Leistungsbereitschaft gerade des Individuums, das von vorn herein auch mit materieller Autonomie ausgestattet in den Arbeitsprozess eintritt und sie nicht erst als deren Ergebnis erlangt, muss eine kulturelle Grundlage haben, nach der sich um so mehr zu fragen lohnt, als es sie heute noch nicht gibt.
Autonomie des Einzelnen kann schlechterdings vom Gesetzgeber nur gewährt werden, wenn davon ausgegangen wird, dass der Einzelne, wenn er selbst entscheidet, im Grunde gleichwertig entscheidet, als hätte ihm der Gesetzgeber jeden einzelnen Schritt vorgegeben, wo davon ausgegangen werden kann, dass der Einzelne nicht gegen die Gemeinschaft entscheidet. So wird z.B. kein Gesetzgeber dem Einzelnen die Autonomie einräumen, über das Leben anderer zu entscheiden.
Der demokratischen Privation des Einzelnen, politisch und wirtschaftlich autonom zu handeln, liegt das Kalkül zugrunde, dass es wesentlich effektiver ist, am Markt und in Gesellschaft den Einzelnen entscheiden zu lassen, weil eine Planwirtschaft nicht in der Lage ist, die gleiche Entscheidungstiefe sinnvoll abzubilden, durchzuplanen und den Einzelnen vorzugeben, was zu tun ist. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass maximale Effizienz grundsätzlich nicht kontrollierbar ist, weil jede Kontrolle Aufwand erfordert und also eine Einbuße an Effizienz darstellt. Die Selbstbeschränkung des demokratischen Staates, durch die die Autonomie des Einzelnen in die Gesellschaft kommt, ist gerade deshalb kein 'selbstloses' Geschenk der Polis an den Einzelnen. Sie ist für die Polis ein durchaus riskantes Kalkül. Dieses Kalkül besagt: Die demokratische Gesellschaft gewinnt an Dynamik durch erhöhte Effizienz, aber sie riskiert zugleich Stabilität. Wie dem auch sei, und wie dieses Spannungsverhältnis historisch auch jeweils ausgependelt wird, Autonomie ist nicht nur Freiheitsversprechen, sondern wird zugleich mit sozialen Forderungen an den Einzelnen aufgeladen. In der Leistungsgesellschaft hat der Einzelne, einmal mit Autonomie versehen, Leistung abzuliefern.
Dieser Doppelcharakter individueller Autonomie als Selbstbeschränkung des Gesetzgebers und als soziale Leistungsforderung an den Einzelnen hat historisch bis heute weiten Raum für einen radikalen, vielförmigen Individualismus geöffnet, innerhalb dessen sich der Einzelne selbst als bestimmende Instanz für das sieht, was ihm etwas wert ist und was nicht. Man kann das ein Phantasma nennen, denn selbstverständlich sind die Individuen weder die genuinen Erfinder ihrer auf das Format von Konsumwünschen gebrachten Wertschätzungen, noch ihrer genuinen Ideen, nur lässt sich dieses Phantasma durch Aufklärung nicht überwinden. Kulturell, im Umgang der Menschen untereinander, sieht sich jeder heute mit der Idee der Autonomie und Verantwortlichkeit der Subjektivität verbunden und dabei zugleich mit Transkulturalität konfrontiert, mit dem beunruhigenden Pluralismus der Denkstile, Einstellungen, Wertungen und Verhaltensweisen. Das mag man mögen oder nicht, geordnet oder chaotisch finden. Das Bedürfnis nach Orientierung ist darin jedenfalls ubiquitär. Gleichzeitig tendiert die Mehrheit der Menschen in Deutschland nicht von ungefähr dazu, ihre persönlichen Autonomievorstellungen mit den Bildern wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit kurzzuschließen. Wenn auch jedermann zugebilligt wird, schlechthin alles frei und selbstbestimmt zu entscheiden, solange er damit anderen nicht schadet, ist ihm jedoch im heutigen Sozialstaat nicht freigestellt, Lohnarbeit zu verweigern, falls er arbeitsfähig, aber ohne ausreichendes Einkommen ist. Hier decken sich kulturelle Erwartung und gegenwärtige Rechtslage. Gerade an dieser für die Lebensführung entscheidenden Stelle wird dem Einzelnen Autonomie verweigert. Die Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens halten genau das für falsch.
Es dürfte deutlich geworden sein, dass der Gedanke der Förderung der Selbstbestimmung des Einzelnen, der bei der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ins Spiel kommt, nicht einfach bezweckt, die Menschen besser gegen Armutsrisiken abzusichern. Das ginge anders mit den Bordmitteln der sozialen Marktwirtschaft viel leichter. Die Stärkung der Handlungsspielräume der Individuen realisiert eine gesellschaftliche Erwartung an sie und gerade nicht eine Erwartung der Einzelnen an eine sie versorgende Sozietät.
Im Gegenteil, bedingungsloses Grundeinkommen soll die Autonomie des Einzelnen bereits vor dessen Eintritt ins Arbeitsleben absichern, um dessen volle Leistungsmöglichkeiten freizusetzen und das Gemeinwesen im internationalen Wettbewerb zu stärken.
Anmerkungen:
31 Für Platon muss sich der Mensch selbst dazu bestimmen, nicht Diener, sondern Herr seiner Reden und Taten zu sein. Er soll »in Freiheit und Muße« (en eleutheria te kai schole) erzogen werden, um sein Leben »mit Einsicht« (meta phroneseos) führen zu können und dabei dem Gott so ähnlich wie möglich zu werden. Andernfalls würde er »sich selbst nicht gefallen« (Platon, Theait. 173 c, 175 d/e, 176 b.). Im öffentlichen Raum wird die Politik als die »selbstgebietende Kunst« (autepitaktia) verstanden und die in Gemeinschaft einsichtig handelnden Bürger werden als die »Eigengebietenden« (autepitaktikoi) bezeichnet werden.(Politikos 260 e; 275 c.)
32 Pico della Mirandola:»Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen« (tibi illam praefinies).
33 Kant führt aus: »Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein. Nun ist das, was dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muss für alle vernünftigen Wesen gleich gelten.« (Kant, Grundl. z. Metaphysik d. Sitten, AA 4, 427)
34 Wir erinnern uns etwa an die politischen Debatten über die Abtreibung, die Achtung vor der Entscheidung noch nicht volljähriger Menschen, die Wahrung des Patientenwillens, das Recht, eine zwangsweise medizinische Versorgung abzulehnen, die Verfügung des Einzelnen über sein Lebensende. Autonomie des Einzelnen ist etwas, das bestimmt, politisch erstritten und eigens eingeräumt werden muss.
35 Beispiel deutsche Staatsangehörigkeit als eine Zugehörigkeit mit ziemlich rigiden und zugleich stabilen Kriterien: Man wird Deutscher durch Geburt, Adoption oder Einbürgerung. Gemäß Art. 16 Abs.1 S.1 GG ist die Ausbürgerung in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich verboten. Die deutsche Staatsangehörigkeit darf demnach nur auf Grund eines Gesetzes entzogen werden und zudem gegen den Willen des Betroffenen nur dann erfolgen, wenn er dadurch nicht staatenlos wird.
36 Es ist nicht die Mehrheit der Einzelnen, die die Demokratie konstituiert, sondern umgekehrt die verfasste Demokratie, die der Mehrheit der Einzelnen ihre Bedeutung als Souverän gibt. Die Schöpfung konstituiert hier sozusagen den Schöpfer.
37 Was deutsche Grundgesetz stellt Menschenrechten und Grundrechte unter eine so genannte Ewigkeitsgarantie (Ewigkeitsklausel). Laut Art. 79 Abs. 3 GG ist eine „Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche (…) die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden (…) unzulässig.“ S0 der Gesetzgeber 1948. Aber wer wird sprechen, wenn die Menschenrechte wie schon einmal erneut grundsätzlich infrage gestellt werden sollten? Wir verweisen auf Radbruchs „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (vgl. Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105–108)
38 „Ich
habe mich in der nationalsozialistischen Zeit oft geschämt, ein
Deutscher zu sein, in tiefster Seele geschämt; ich hatte durch
den schweizerischen Generalkonsul von Weiß von den
Schandtaten, die von Deutschen an Deutschen begangen wurden, und von
den Verbrechen, die an der Menschheit geplant waren, erfahren. Aber
jetzt, nach dem Zusammenbruch, als ich sah, wie das deutsche Volk
sein furchtbares Geschick: Hunger, Kälte, Not und Tod, ein
Leben einstweilen ohne jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft, in
völliger politischer Machtlosigkeit, verachtet von allen
Völkern der Erde, wie das deutsche Volk dieses Schicksal trug,
mit geduldiger Stärke, die stärker zu sein schien als alle
Not, jetzt war ich wieder stolz darauf, ein Deutscher zu sein. Ich
war stolz auf den Starkmut, mit dem das deutsche Volk sein Schicksal
ertrug, stolz darauf, wie jeder einzelne duldete und nicht
verzweifelte, wie er versuchte, nicht unterzugehen und sich und die
Seinigen aus diesem Elend hinüberzuretten in eine bessere
Zukunft.“
(Adenauer, Erinnerungen 144-53, S.43)
oder
auch: „Die Bedeutung der Frage der Sozialisierung nahm immer
mehr zu, und die CDU sah sich veranlaßt, ihre Auffassung
hierzu genau und präzise festzulegen. Der Sozialismus der
deutschen Sozialdemokraten war absolut materialistischer Natur. Dr.
Schumacher hatte sich zum Marxismus des Klassenkampfes und zur
ökonomischen Geschichtsauffassung im Mai des Jahres 1946 auf
dem Parteitag der SPD in Hannover bekannt. Die deutsche Wirtschaft
war durch den Nationalsozialismus, den Krieg, den Zusammenbruch zum
Teil völlig vernichtet, zum Teil in einer nicht zu
beschreibenden Unordnung. Alles, was sich sozialisieren, das heißt
verstaatlichen ließe, zu verstaatlichen, war ein einfaches,
aber ein tödliches Rezept. Es hätte die schöpferische
Kraft des einzelnen, ohne die ein Wiederaufbau nach dieser totalen
Zerstörung nicht möglich war, nicht zur Geltung kommen
lassen. Es hätte auch die wirtschaftliche Kraft der
Einzelpersönlichkeit, die in nicht unerheblichem Umfange noch
vorhanden war, nicht nutzbringend verwendet.“ (ebd. S. 207)
39 „Geraume
Zeit, bevor ich das Wirtschaftsressort in der ersten westdeutschen
Bundesregierung übernahm, legte ich auf dem CDU-Parteitag der
britischen Zone Ende August 1948 in Recklinghausen dar, daß
ich es für abwegig halte und mich deshalb auch weigere, die
hergebrachten Vorstellungen der früheren Einkommensgliederung
neu aufleben zu lassen. So wollte ich jeden Zweifel beseitigt
wissen, daß ich die Verwirklichung einer Wirtschaftsverfassung
anstrebe, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu
Wohlstand zu führen vermag. Am Ausgangspunkt stand der Wunsch,
über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft die alte
konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden.
Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch
eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten
konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite
Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet. Die
Neugestaltung unserer Wirtschaftsordnung mußte also die
Voraussetzung dafür schaffen, daß dieser einer
fortschrittlichen Entwicklung entgegenstehende Zustand und damit
zugleich auch endlich das Ressentiment zwischen „arm“
und „reich“ überwunden werden konnten. (...)
Das
erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung und Sicherung jeden
Wohlstandes ist der Wettbewerb. Er allein führt dazu, den
wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen, im besonderen in ihrer
Funktion als Verbraucher, zugute kommen zu lassen, und alle
Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung
resultieren, zur Auflösung zu bringen. Auf dem Wege über
den Wettbewerb wird – im besten Sinne des Wortes – eine
Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt und dazu
noch das persönliche Leistungsstreben wachgehalten. Immanenter
Bestandteil der Überzeugung, auf solche Art den Wohlstand am
besten mehren zu können, ist das Verlangen, allen arbeitenden
Menschen nach Maßgabe der fortschreitenden Produktivität
auch einen ständig wachsenden Lohn zukommen zu lassen. Um
dieses Ziel zu erreichen, müssen wichtige Voraussetzungen
erfüllt werden. Wir dürfen über dem sich ausweitenden
Konsum die Mehrung der Produktivität der Wirtschaft nicht
vergessen. Dabei lag am Anfang dieser Wirtschaftspolitik das
Schwergewicht auf der Expansion der Wirtschaft, um zunächst
einmal das Güterangebot überhaupt steigern und auch auf
diesem Wege dem Wettbewerb laufend Auftrieb zu geben. Vor allem galt
es, der wachsenden Zahl von Arbeitsuchenden
Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen.“
(Ludwig
Erhard, Wohlstand für alle. Düsseldorf 1957, S.
7f.)
Dagegen Adenauers auf Machtbegrenzung abzielende Ablehnung
einer zentralen Wirtschaftsplanung: „Ich betonte bereits, daß
im Mittelpunkt des Programms der CDU die Freiheit der Person steht.
Man muß sich darüber klar sein, daß der Sozialismus
sich nicht nur auf eine Form oder Gestaltung der Wirtschaft
beschränkt. Durch eine zu starke Sozialisierung des
Wirtschaftsgefüges ist die Machtzusammenballung in den Händen
des Staates zu groß, und die Gefahren, die sich daraus für
das Leben eines Volkes ergeben, hatten wir aus eigener Erfahrung
gesehen. Der Sozialismus führt notwendigerweise zur
Unterordnung der Rechte und der Würde des einzelnen unter den
Staat oder irgendein staatenähnliches Kollektiv. Ich war der
Auffassung, daß die auf der materialistischen Weltanschauung
beruhende Vergottung des Staates und ungehemmte Ausdehnung seiner
Rechte, wie wir sie in der Vergangenheit erlebt hatten, niemals
wiederkommen durften.“ (Konrad Adenauer, Erinnerungen
1945-1953, S. 61f.)
40 In
einem Wahlaufruf des sozialdemokratischen Pressedienstes zur ersten
Bundestagswahl am 14.8.1949 heißt es: „Auch die
reichsten Länder können es sich nicht leisten, auf Planung
in der Kapitalversorgung, der Produktion und der Ein- und Ausfuhr zu
verzichten. Weil si9ch die wirtschaftlichen Beherrscher Deutschlands
diesen Luxus leisten wollen, den sie hinter dem sinnlosen Wort von
der 'sozialen Marktwirtschaft' verstecken, fehlen die Kapitalien,
herrscht Not gegenüber einem Überfluss der Oberschicht,
den sogar die meisten Siegerländer nicht kennen. Planung ist
notwendig. Sie ist das Gegenteil der Zwangswirtschaft des Dritten
Reiches. Beide gleichzusetzen heißt das Volk bewusst betrügen.
Kredite und Rohstoffe müssen der Dringlichkeit nach an die
Industrie gegeben werden, von denen die anderen abhängen und an
die Produktionszweige, die den lebensnotwendigen Bedarf decken. (…)
Sozialisierung der großen Industrien, Kridit- und
Geldinstitute und des Versicherungswesens bedeutet Eigentum des
deutschen Volkes an diesen Mitteln der Wirtschaft und ihre
Demokratisierung. Sozialisierung ist nicht Antasten des privaten
persönlichen Eigentums der des mittleren und kleineren
Eigentums an Produktionsmitteln. Der Mittelstand in Stadt und Land
soll gefördert und entwickelt werden, weil er
volkswirtschaftlich und politisch nötig ist. Die Sozialisierung
ist der beste Schutz des Friedens und der Demokratie. Sie schützt
das deutsche Nationaleigentum gegen Überfremdung und gegen das
Bündnis der alten politisch schuldigen Eigentümer mit den
Kapitalisten anderer Länder.“
(Quelle:
http://library.fes.de/spdpd/1949/490801-sondervers.pdf)
Interessant
ist auch, an die Themen zu erinnern, die damals auf der Tagesordnung
standen und um die zwischen den Parteien gestritten wurde.
„Planung
in der Wirtschaft“, „produktive Vollbeschäftigung“,
„Erhöhung des Lebensstandards“, „der soziale
Lastenausgleich“, „Sozialisierung und Bodenreform“,
„Hilfe für die wirtschaftlichen Schwachen“,
„Gleichberechtigung für die Vertriebenen“,
„sozialer Wohnungsbau“ (bei 5 Mio. fehlenden Wohnungen),
„Freiheit und Toleranz im Kulturleben“
(Gemeinschaftsschule statt konfessionelle Erziehung), „eine
lebensfähige Bundesrepublik“ (zentrale Bundesgewalt gegen
Separatismus), „selbständiges Deutschland“ (vs.
Besatzungsstatut), so hieß es damals im Flugblatt der SPD.
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