'agenda setting'
Michael Seibel • Verändertes Menschenbild – 'concept of man' (Last Update: 30.10.2018)
Ab Mitte der 90er Jahre kommt es zur rasanten Entwicklung von Social Media, d.h. zu Medien, die ihre Nutzer über digitale Kanäle in der gegenseitigen Kommunikation und im Austausch über von Nutzern selbst generierte Inhalte unterstützen.
Die Medien-Wirkungsforschung des 20. Jahrhunderts bedient sich gewisser Grundannahmen:
Lowery/DeFleur sehen grundlegend folgende vier Schritte auf dem Weg zu Medienwirkung: Zunächst provozieren die Medien bei ihren Zuhörern ein Problembewußtsein (awareness of the issues). Zweitens stellen sie den Mitgliedern dieses Publikums einen Korpus an Informationen dazu bereit. Drittens, bilden diese Information die Grundlage für Einstellungsänderungen derer, die die Information für glaubwürdig halten. Und viertens prägten die Einstellungen das Verhalten der Beteiligten.19
Mit der Schrittfolge Problembewußtsein, Information, Einstellungsänderung, Verhalten wird zweifellos so etwas wie ein generischer Zusammenhang gedacht. Aus Problembewusstsein wird Informationsbereitschaft. Und wenn dann Information zur Verfügung steht, kommt es möglicherweise zu Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Die Medien-Wirkungsforschung hat sich inzwischen ein großes Stück weit vom Behaviorismus (Stimulus-Response-Modelle) verabschiedet, der ihrem Wirkungsbegriff zunächst zugrunde lag. Allein schon die Vielzahl der möglichen Dimensionen von Effekten sorgte für Verwirrung.
Medieneffekt kann sein der Wandel, die Abschwächung oder Verstärkung von etwas, Effekte können direkt oder indirekt sein, stark oder schwach, kurzfristig oder lang andauernd, einmalig oder wiederkehrend, sie können unidirektional, zirkulär oder oszillatorisch verlaufen, sie können Meinungen und Einstellungen oder Verhalten betreffen, es kann sich um individuell wirksame oder sozial wirksame handeln, sie können Überzeugungen betreffen oder nur die Interpretation von Fakten, sie können intendiert sein oder unbeabsichtigt und vieles mehr.
Die Medien-Wirkungsforschung behilft sich mit der Einführung von ‚mediating factors‘ in ein von Haus aus nach wie vor behavioristisches Denkmodell. ‚mediating factors‘ meinen zusätzliche Faktoren, die den direkten Einfluss von Medienwirkung begrenzen wie etwa Gruppenzugehörigkeit, selektive Wahrnehmung, Vermeidungshaltungen etc. Ein Gutteil der Ergebnisse der Medien-Wirkungsforschung besteht gerade darin, immer spezifischere solcher ‚mediating factors‘ zu beschreiben.
Wie steht es also mit dem Verständnis von Einstellungs- und Verhaltensänderungen?
„[…] the press is significantly more than a purveyor of information. It may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what to think about.“20
Ende der 60er-Jahre wird der Begriff des ‚Agenda Setting‘ in der amerikanischen Literatur eingeführt.
„Es geht (...) nicht um die Zurückweisung anderer Theorien, sondern um die Platzierung von Medieneffekten in einem mehrstufigen Wirkungsprozess, der insbesondere auch das Verhältnis von Medienaufmerksamkeit und öffentlicher Aufmerksamkeit (Politik, Bevölkerung) achtet. Ein Systematisierungsvorschlag differenziert diesbezüglich ein Awareness-Modell, das die Medienwirkung auf der Ebene der Wahrnehmung lokalisiert und an unterschiedlichen Graden der Aufmerksamkeit festmacht. Diese Aufmerksamkeitsdifferenzen sind nicht nur abhängig von Interesse und/oder Betroffenheit, sondern auch von dem Ausmaß der Hervorhebung des jeweiligen Themas. In jedem Falle wird angenommen, dass die Medienberichterstattung Einfluss auf die Beurteilung der Wichtigkeit von Themen nimmt (sogenanntes Salience-Modell). Damit zusammenhängend ist schließlich eine Hierarchisierung der relevanten Themen zu erwarten. Dieses Prioritäten-Modell geht von der Erwartung aus, dass Medienagenda und Publikumsagenda in einer engen inhaltlichen und somit auch statistischen Beziehung stehen. Agenda Setting bedeutet demzufolge zunächst Thematisierung, aber zugleich auch Strukturierung von Themen. Die Berichterstattung unterscheidet sich in Präsentation und Persistenz der Themen. Diese Gewichtung wird von den Rezipienten wahrgenommen und als Indikator für die gesellschaftliche Relevanz in die eigene Bewertung integriert. Während sich ein Teil der bisherigen Forschung in der Regel direkt mit Fragen der Meinungs- oder Einstellungsänderung auseinandersetzte, wird mit dem Blick auf die Themenagenden die Ausgangsbasis potenzieller Veränderungen beschrieben.“21
Anmerkungen:
19 Vgl. Lowery, Shearon/DeFleur, Melvin Lawrence: Milestones in mass communication research. 3rd edition. White Plains, New York. 1995, S. 275
20 Cohen, Bernard C.: The Press and Foreign Policy. Princeton. 1963,S. 13 „Die Presse ist deutlich mehr als ein Informationslieferant. Es mag nicht oft gelingen, den Leuten zu sagen, was sie denken sollen, aber es ist erstaunlich erfolgreich, ihnen zu sagen, worüber sie nachdenken sollen.“
21Michael Jäckel, Medienwirkungen kompakt, Wiesbaden 2012, S.67
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