Das Sein – das Nichts – das Werden
Franz Rieder • (Last Update: 22.03.2017)
Cusanus selbst kennzeichnet die
Vorstellung der coincidentia oppositorum, also der Einheit von
Gegensätzen, als Kernelement seiner Betrachtungsweise. Diese,
oder eine ähnliche Betrachtungsweise gab es vorher nicht und sie
wendet sich vor allem gegen den aristotelischen Satz vom Widerspruch.
Und Cusanus erkennt, dass es der Verstand, ja dessen Kardinalaufgabe
ist, alle geistigen Anstrengungen darauf zu richten, diese „einfache
Einheit“ zu erreichen, in der alle Arten von Entgegengesetztem
(opposita) aufgehoben sind.
Das umfasst auch die widersprüchlichen
Gegensätze, die von kontradiktorischer Art sind und die sich
nach dem Satz des Widerspruchs ausschließen. So schließen
sich etwa die Begriffe Sein und Nichts, Möglichkeit und
Unmöglichkeit nach aristotelischer Logik in der Urteilsbildung
aus, nicht so bei Cusanus.
Gerade die Einbeziehung auch dieser Gegensätze bzw. kontradiktorischen Begriffe in die allumfassende Einheit ist das Neue gegenüber den früheren Betrachtungsweisen und deren Ausschluss gründet nach Cusanus gerade darin, dass Philosophie im Sinne einer assoziativen, aber widerspruchsfreien Denkweise prozediert, weshalb er, Cusanus, seine Philosophie auch nicht gerne als ein System, sondern allenfalls als ein Denkentwurf betrachtet wissen will.
Er versucht aus philosophischer wie aus theologischer Hinsicht eine Neupointierung der neuplatonischen Philosophie-Tradition. Darin sei das letzte Ziel aller Erkenntnisbemühungen, den einen schöpferischen Urgrund des Werdens, der zugleich Ausgangspunkt und Bestimmung alles Werdens sei zu bestimmen. In theologischer Sprache ist diese Bestimmung ausgedrückt mit dem Begriff Gott. Doch vielmehr als theologisch entfaltet Cusanus seine Vorstellungen philosophisch, indem er den Grund allen Seins zugleich als äußerste, absolute Einfachheit und zugleich als Mannigfaltigkeit bestimmt.
Die Bestimmung
des „Einfachen“ als die „Ursache“ der
gesamten, vom menschlichen Denken empirisch bestimmbaren Welt, also
deren Mannigfaltigkeit bzw. Vielheit, sieht Cusanus aber nicht als
ein Abbild der Welt im Denken, als deren Repräsentation, sondern
als eben eine, dem Denken selbst inhärente Betrachtungsweise.
Darin kann es nicht das Eine ontologisch neben dem Vielen geben. Denn
dann wäre das Eine vom Vielen begrenzt und daher nicht
umfassend. Daher spricht Cusanus auch konsequent davon, dass das Eine
nur dadurch unendlich ist, dass es zugleich auch das Viele ist.
In
der Tradition theologischer Denkweise zeichnet er die Vorstellung der
Beziehung von Gott und Welt als Einfaltung (complicatio) und
die Welt als eine Art Ausfaltung (explicatio) Gottes. Man kann
mit Cusanus dieses Verhältnis auch mit mathematischen Analogien
beschreiben, wonach es sich bei Gott um ein absolutes Maximum
handelt, das zugleich absolutes Minimum ist (als maximale
Kleinheit).1
Was aber bei der Betrachtungsweise von Cusanus weit auf viel spätere philosophische Ansätze herausgreift – vielleicht wäre auch der Ausdruck der Ausfaltung in diesem Zusammenhang vertretbar – ist, dass er in seine Betrachtungsweise das philosophierende und erkennende Subjekt selbstreferentiell einschließt. Cusanus geht nicht von der „Substanz“ aus, insofern Gott, das Eine, oder das Maximum keine besondere Substanz ist, die neben anderen Substanzen besteht. Im Gegenteil. Ganz ähnlich wie moderne Systemtheorien geht Cusanus davon aus, dass es die Einheit der Einheit und Vielheit selbst ist, also diese Denkweise, die überhaupt die Verschiedenheit, die Unterschiedlichkeit der Substanzen, ja auch die contradictio oppositorum wie auch alle Einzeldinge begründet.
Diese Betrachtungsweise ist die Einheit, die in allem erscheint und alles umfasst, also auch das philosophierende und erkennende Subjekt einschließt. Und schon Cusanus sah schon die autopoeitische Gefahr eines Denkens, das vom Widerspruchsprinzip beherrscht ist, dessen Denken befangen ist in einer Vorstellung, einer Projektion, in der das Werden als Grund der Welt nicht mehr erkannt wird.
Wenn daher von einer „Substanz“ ausgegangen wird, dann ist der Ausgang des Denkens sowohl von Beginn an als auch im Schluss einseitig. Daran ändert auch keine Selbstreflexion. Denn sie erkennt zwar das Einseitige dieser Betrachtungsweise bzw. den systematischen Zusammenhang als unbefriedigend und hermetisch, gelangt aber notwendigerweise nur zu der finalen Auffassung, dass Wahrheit unerreichbar, ja nicht einmal nur relativ ist.
Die Krux nach Cusanus ist dabei der ontologische Status des Subjekts, welches hier als Frage oder Suche nach der Wahrheit auftritt. Das „Subjekt“ befindet sich demnach ontologisch als völlig außerhalb der Wahrheit stehend und kann somit nicht anders, als die Wahrheit in einen/etwas anderen als es selbst zu suchen. Existenziell ist ihm dabei der Zweifel konstitutiv, der Zweifel, dass nichts wirklich endgültig wahr ist, also die Auffindbarkeit von Wahrheit fundamental bezweifelt wird. Die Nähe zum Nihilismus ist greifbar.
Während der Nihilist von der
Nichtauffindbarkeit der (absoluten) Wahrheit überzeugt ist, geht
Cusanus davon aus, dass es möglich ist, diese Form der absoluten
Verneinung zu transzendieren. Und zwar zuallererst, indem das
„Subjekt“ versteht, dass die Wahrheit nicht im Anderen
gesucht werden muss, sondern dass die Wahrheit gerade das
Nicht-Andere (non-aliud2)
ist. Das Denken ist quasi auf dem Holzweg, ein Paradigmenwechsel wäre
angeraten.
Diese neue Form des Denkens stellt das Einzelne vor als
Individuum, das aber die gesamte Wirklichkeit, mit der es ungeachtet
seiner individuellen Separatheit verbunden ist, in sich und sonst
nirgendwo enthält. Und das Anderssein kommt nur den
Weltdingen (Objekten) zu, insoweit der Verstand sie betrachtet und
innerhalb seiner Begriffe bestimmt; die Nähe zu Hegels
Auffassung vom begrifflichen Denken und dem System des Deutschen
Idealismus ist hinreichend evident.
Warum es fast vierhundert Jahre gebraucht hat, bis Hegel den roten Faden dieser Denkweise wieder aufgegriffen und systematisch weitergedacht hat, lässt sich nicht abschließend erklären. So konstatieren wir, dass Nikolaus von Kues, kurz Cusanus genannt, der Philosophie weitreichende Vorstellungsmodelle übergeben hat, die, im Falle der „Substanz-Philosophie“ einen Paradigmenwechsel markiert ebenso wie in der Religionsphilosophie, in der Cusanus sich uns aus der Säkularisierung der Gnostik bzw. der philosophischen Theologie als Humanist präsentiert hat. Als Humanist verblieb Cusanus philosophiegeschichtsprägend, weil sein Denken religionsphilosophisch, staatstheoretisch und politisch aus einer neuen Projektion, gemeint ist aus einem intellektuellen Entwurf einer (absoluten) Einheit – man darf durchaus auch aus einem Einheitsideal sagen – vorgestellt wurde.
Aus dieser Vorstellung, eine möglichst umfassende Einheit in ideeller Überzeugung zu verwirklichen, die für Cusanus den höchsten Erkenntniswert darstellte, entwickelte er konsequente und für seine Zeit ungewöhnliche Vorstellungen von religiöser und sozialer Toleranz, sogar Vorstellungen einer Reichsreform sowie Ideen zur Reform von Kirche und Konzilien.
Das Nichts als Mangel
Wir begegnen weit mehr als einem Bedeutungswandel des Begriffs: Das Nichts in dessen Geschichte. Wir haben ja bereits bis hierhin gesehen, dass der Begriff des Nichts in vielerlei Hinsicht konstitutiv ist für mehr als weitere, assoziierte Begriffe, sondern konstitutiv auch ist für unsere Vorstellungen von Zeit oder dem Absoluten.
Unter der Bestimmung als ’nihil privativum‘ bekommt der Begriff des Nichts einen noch viel weiteren Vorstellungsraum als bisher. Zunächst aber erscheint diese Bestimmung als nihil privativum eine Relativierung zu sein und dem ist auch so. Von der frühen Neuzeit an tritt der Begriff des Nichts eine ganze Weile lang, bis Kant und dann Hegel wieder auf die metaphysischen Bestimmungen zurückgreifen, auf als eine Form des Mangels und damit in Bezug zwischen einer metaphysischen und einer ontologischen Bestimmung.
Das Nichts wird alsdann bestimmt als ein Mangel oder eine spezifische Abwesenheit von etwas in einem anderen. Klingt kompliziert, ist es aber zunächst nicht, betrachtet man das gerne genommene Beispiel: die Dunkelheit ist lediglich die Abwesenheit (absoluter Mangel) von Licht. Oder wie im Fall des ‚Schwarzen Quadrates‘ fungiert das Schwarz zugleich als Abwesenheit von Farbe und damit gleichzeitig als Abwesenheit jeder Figürlichkeit. Gingen wir also vom Sein aus, dann wäre das Nichts der Mangel an Sein und wir werden diesem Gedanken später bei Heidegger, bei Lacan und anderen wieder begegnen.
Bei dieser Bestimmung des Nichts als Mangel, die letztlich auf Platon zurückgeht und am besten im Timaios vorgestellt ist, handelt es sich lediglich formal betrachtet um eine logische Entgegensetzung, etwa von Licht und Dunkelheit, die in eine direkte Beziehung gebracht werden. Durch die einfache Negation erscheint das Negierte von geringerem, ontologischen Status bzw. Wert. Wäre dem so, dann entspräche etwa das Böse und dessen graduelle Ausprägungen, also die realen Grade des Mangels, dem jeweiligen Grad des Vorhandenseins des Guten.
Das Verhältnis von Licht und Dunkel, Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtikeit usw. wäre vorgestellt als ein Verhältnis der Ausgewogenheit bzw. mangelnden Ausgewogenheit. Wie im Bild der Waage hieße weniger Licht mehr Dunkelheit. In diesem Gedankenspiel, so durchsichtig dies auch bei manchen gegengesetzten Begriffspaaren zu sein scheint, aber stecken erhebliche Fallstricke. Der am nachhaltigsten die Gemüter beschäftigende ist synonym mit der viel besprochenen Frage der Theodizee.3
An der Theodizee lässt sich
trefflich diskutieren, in wie weit diese Frage wie deren
Antwortmöglichkeiten und philosophische Schlussfolgerungen
maßgeblich bestimmt sind, in welchem ideologischen Kontext sie
erscheinen. Bei den antiken Griechen begründete sie den
Skeptizismus, denn wenn der Demiurg existierte, dann müsste bzw.
könnte er auch das Böse bzw. das Übel und das Leid
verhindern.
Die philosophischen Schlussfolgerungen gingen allesamt
nicht den Weg der Rekursion, sondern formulierten konsequenterweise
ein agnostisches bzw. atheistisches Weltbild.
Dass diese Frage von grundsätzlicher
Bedeutung war, mag man daran sehen, dass sie in vielen der antiken
Kulturen aufkam, so im alten China, in Indien, im Iran, bei den
Sumer, in Babylonien und in Ägypten zu finden ist.
Die
Antwort scheint einfach, denn wenn ein (einziger) unbewegter Beweger,
also ein Schöpfergott gedacht wird, der alles Seiende und Werden
bestimmt, dann stellt sich auch die Frage nach der ‚Schuld‘
und die kann dann nur bei den Menschen liegen, insofern sie
mangelhafte Geschöpfe Gottes sind. Aber der Schuldtransfer von
etwas Metaphysischem ins Empirisch-Ontologische geht längst
nicht so glatt. es sei denn, man versteht die empirische Welt als
eine Welt der Partizipation, wie das im Christentum gedacht wurde und
wird. Nur dann, wenn die Geschöpfe Gottes die Wahl haben, für
oder gegen das Böse zu votieren (Gebote) kann Schuld übertragen
werden.
Nun wollen wir keine Bibel-Exegese, keine Schriftauslegung betreiben. Bei alledem ist interessant und von einigem philosophischen Wert, wenn wir die Frage der Theodizee ganz kurz in weiteren Kontexten betrachten. Sie taucht mit neuer Wucht auf in der Aufklärung, inauguriert von Leibniz, und wirkt auf’s neue in die Philosophie hinein. Bis dann mit Nietzsche und dem Satz: Gott ist tot, die Frage der Theodizee im Nihilismus aufgeht, wo keine philosophischen Fragen sich mehr stellen und uns in der Folge nur noch bleibt, die möglichen Auswirkungen zu umreißen.
Aber erinnern wir uns zuerst noch kurz an der grundsätzlichen Bedeutung der Theodizee für die Aufklärung. Denn was hier von grundsätzlicher Bedeutung ist, hat darüber hinaus Bestand in einigen Bereichen der Philosophie im allgemeinen wie auch der Staatstheorie im besonderen bis heute.
Wir betonen und fokussieren die Frage
der Theodizee im Zeitalter der Philosophie der Aufklärung
zunächst aus der Philosophie des Rationalismus heraus. Dem liegt
eine lange Tradition zu Grunde, die wir schon ausreichend beleuchtet
haben, die sich aber hier nicht nur neu und pointierter stellt,
sondern die den Paradigmenwechsel von der antiken Metaphysik hin zur
neuzeitlichen Ontologie markiert.
Wir folgen nicht den zahllosen
Analogiesätzen, die uns den Paradigmenwechsel verschleiern bzw.
im Nebel untergehen lassen, wenn davon die Rede ist, dass die
Metaphysik des Seins nun nur von der Metaphysik der Subjektivität
abgelöst worden wäre – und alle die
Begriffsdoppelungen zwischen ontologischer Metaphysik und
metaphysischer Ontologie und was nicht noch alles für ein
Begriffsgewimmel an Unsinn.
"Als
ich 1913 den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht
der Dinge zu befreien, stellte ich ein Gemälde aus, das nicht
mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Grundfeld
... Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr
die Empfindung der Gegenstandslosigkeit." (Kasimir Malewitsch)
Das Nichts und derGrund
Spannt man den Bogen der Frage der Theodizee so weit, dass er ihre
ganze Bandbreite umfasst, dann wurzelt die Frage in der antiken
griechischen Philosophie und dort schon in dem einzigen, sehr kurzen
Werk von Parmenides, das großen Einfluss auf Platon4
und über ihn auch auf Aristoteles hatte. Parmenides verankert
die Theodizee im Bereich seiner erkenntnistheoretischen Frage nach
der Erkennbarkeit des Seins, die man mit Sicherheit erreichen kann
und lässt die namenlose Göttin (Sophia?) argumentieren: das
Seiende (t’eon, ta eonta) ist, das Nicht-Seiende (mê
eonta) hingegen nicht.
Und damit ist die Annahme, dass sich etwas
verändert am Sein nichts als Doxa, purer Schein, bloße
Meinung von Menschen. Die Frage nach dem Werden bringt, so die Göttin
weiter, die Menschen in den fundamentalen Gegensatz zum Wissen, zur
Erfassung des Seienden duch das Denken.
Die Frage nach Gut und
Böse und ganz besonders die Frage nach der Gerechtigkeit5
stellt sich damit für Parmenides analog zu einer
Zwei-Weltenlehre und ähnlich dem juristischen Prinzip der
Beweislast-Verteilung wie dies Spinner juristisch nicht ganz korrekt,
aber in schöner Analogie beschreibt. Wer hat also die
Verantwortung für das Böse, das Ungerechte in der Welt,
wenn diese Welt sich nicht ändern kann, bzw. alles an
Veränderung Doxa ist?
Die Frage der Theodizee stellt sich
unserer Meinung nach von Beginn an als die Frage nach der Ursache des
Bösen, Ungerechten, Leiden in der Welt. Und mit dieser
Bestimmung einher geht notwendigerweise auch die Frage nach dem
Grund. Denn die Frage als solche muss begründet sein, will
Philosophie die Frage der Verantwortung (bzw. der Schuld im
religionsphilosophischen Kontext) grundsätzlich beantworten, was
sie in dem eigens dafür bestimmten Bereich der Ethik (auf der
Basis der Politik) versucht.
Es gehören also beide Fragen in
die gleiche Thematik der antiken Metaphysik: die Frage nach der
Theodizee und die Frage nach dem Grund, die den Horizont bilden für
die Frage nach der Grundlegung der Ethik und damit der Frage nach der
Grundlegung von Verantwortung. Aber dass Verantwortung nicht aus dem
Kontext der Aufklärung zu verstehen ist, wenn es um das antike
Griechenland geht, liegt auf der Hand.
Wir haben gesehen, dass die ‚Göttin‘ Sein und Nichts radikal von einander trennt und prinzipiell das Nichts, das in Relation zum Sein die Perspektive auf das Werden eröffnet, von der Frage nach dem Grund trennt. Das Nichts bzw. hier das Nichtseiende gehört der ‚Göttin‘ nach der Welt der Doxa an. Somit sind Sein und Erkennen (Denken) voneinander getrennte Bereiche und nur die Annahme, dass das „Seiende ist“ (t’eon, ta eonta) so wie es ist, also als eine Form der Sichselbstgleichheit vor bzw. jenseits jeder Veränderbarkeit Bestand hat, ermöglicht eine Form der sicheren Erkennbarkeit (Wissen).
Die Gewähr einer sicheren Erkenntnis übernimmt in der antiken Metaphysik im Übergang zur antiken Ontologie der Satz vom zureichenden Grund (lat. principium rationis sufficientis). Da, wo geschichtlich Logik und Philosophie anhoben, parallel sich zu entwickeln, bildet der Satz vom zureichenden Grund den allgemeinen Grundsatz der Übereinstimmung von Denken und Sein, manchmal unterschiedlich formuliert und auch in verschiedenen Funktionen angewandt. Ganz allgemein formuliert heißt das: Jedes Sein oder Wissen (Erkennen) kann und soll, also sowohl das Sein wie das Wissen, in einer Form von Angemessenheit, adäquatio, auf ein anderes, ein Drittes, zurückgeführt werden – (vgl. veritas est adaequatio intellectus ad rem bzw. adaequatio intellectus ad rem etc.).
Halten
wir aber zunächst grundsätzlich fest, dass der Satz vom
zureichenden Grund nicht identisch ist mit dem Satz vom Widerspruch
und dass es auch nicht billig ist, die Unterscheidung, ob etwas ist
oder nicht ist mit der Frage, ob etwas wahr oder falsch ist in einen
Topf zu werfen.
Wir haben gezeigt, dass die Begriffe Sein und
Nichts und ihre ontologische Beziehung zueinander etwa als Mangel
oder nihil privativum (wir werden andere noch kennen lernen)
die Grundlage der Metaphysik 6
bilden. Insofern Metaphysik letzte Fragen zu ihrem Gegenstand hat,
kann und darf sie nicht mit einer Ontologie verwechselt werden7.
Uns leitete bislang die Frage nach dem Werden, also die Frage, ob sich bei allen Veränderungen, ob es bei dem offensichtlichen Wechsel des Seienden und seinen Erscheinungen etwas gibt, was innerhalb des Prozesses der Veränderung gleich bleibt? Wir bewegen uns damit immer an der Schnittstelle bzw. innerhalb des Übergangs von Metaphysik zur Ontologie (und umgekehrt), die den Eintritt der aristotelischen Logik in die Metaphysik historisch markiert.
Der Satz vom zureichenden Grund wurde
von Aristoteles als Grundsatz der Philosophie expliziert. Mit seiner
Einführung der Kategorien, also der Logik insgesamt, in die
Metaphysik wurde der Anfang gemacht, die Philosophie als eine
Ontologie zu verfassen. Die Gewähr des ontologischen Wissens
liegt ab da in der Auffassung, dass das Denken und das Sein einen
gemeinsamen Grund haben, dass die Ordnung des Seins adäquat in
der Ordnung des Denkens wiedergegeben werden kann und so Denk- und
Seinsformen übereinstimmen können.
Ist der Satz vom
zureichenden Grund eine metaphysische, also letzte Begründung
von Wissen, dann kann es keine Frage geben, ob dieser Satz selbst
wiederum wahr oder falsch ist. Denn dann hinterfragte man diese
Begründung auf eine andere Begründung, also wäre der
Satz kein letzter Grund. Aber da die Hinterfragung selbst im Raum des
Denkens, des Wissens stattfindet, wollte man letztes Wissen durch
Wissen hinterfragen; welches Wissen sollte das sein?
Aber so wenig wie wir bei der Frage der
Theodizee Bibelexegese betreiben wollten (und müssen), wollen
wir metaphysische Fragen auf der Grundlage der Logik hinterfragen
(muss man auch nicht).
Was man aber auf der Grundlage der Logik
hinterfragen kann, ist die Logik selbst. Denn die Logik gehört
(zurecht) nicht in den Bereich der Metaphysik, sondern in den der
Ontologie.
Den Satz der ‚Göttin‘: das Seiende
(t’eon, ta eonta)
ist, das Nicht-Seiende (mê eonta) nicht, kann man mit
den heutigen Mitteln der Logik sehr wohl zu Leibe rücken, wobei
man recht schnell merkt, dass es quantitativ wohl so viele gibt, die
dem Satz Wahrheit attestieren wie es eben so viele gibt, die den Satz
für falsch halten, was aber wahrscheinlich der Gesamtverteilung
entspricht an jenen, die der Logik überhaupt den Hort der
Wahrheit zubillgen, wie jene, die das nicht tun.
Wir haben schon
darauf hingewiesen, dass man in der Aussagenlogik bei der
Zuweisung von Eigenschaft wie Mann und Frau arg daneben liegen kann
und auch keine ‚Biologie‘ helfend zur Seite springt, wenn
es um Zwischenformen der Geschlechtsidentität geht, die genau
genommen auch keine Zwischenformen darstellen, nur für jene, die
Geschlechtsidentität mit dem Satz vom ausgeschlossenen
Widerspruch definieren.
Wir haben gezeigt, dass das Licht sowohl
als Teilchen als auch als Welle definiert werden kann und dabei auf
das Komplementaritätsprinzip der Physik hingewiesen. Und wir
erinnern gerne daran, dass eine Negation in der Logik des Begriffs
(Hegel) nur den ontologischen Status einer Annahme besitzt, die im
Fortgang des Denkens auf ihre relative Beziehung zwischen Grund und
Annahme hinterfragt werden kann 8.
Aber damit ist das Schicksal des Satzes
vom zureichenden Grund noch nicht beschlossen. Denn gehen wir auf die
Kernproblematik fokussiert zurück ins antike Griechenland und
lassen damit die ganzen Schwierigkeiten ebenso zurück, die sich
aus der Entwicklung der Logik, des aristotelischen Syllogismus
ergeben haben, dann sehen wir, dass sich die Frage verengt auf den
Satz:
„Es ist nämlich unmöglich, daß
jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht.“
Dieser Satz besagt nämlich pointiert, dass der Satz vom zureichenden Grund nur darin zureichend ist, wenn etwas Sichselbstgleiches (dasselbe) gegeben ist oder erkannt wurde. Dann kann dies mit sich selbst identische nicht zugleich der Veränderung unterliegen, mithin also von sich selbst verschieden oder entgegengesetzt sein. Wäre dem so, dann wäre „Täuschung“ möglich, also zwei unterschiedliche Wahrnehmungen am Werke. Dies mag oft der Fall sein, aber nach dem Gesetz der Logik und der darin immanent behaupteten Widerspruchslosigkeit kann nur eine Wahrnehmung wahr sein.
Wer also die Farbe: Blau nicht sehen kann, kann auch nicht irgendwo ein wenig Blau wahrnehmen. So sagt die Logik, die keine Widersprüche in der Wahrnehmung zulässt. Dies gilt auch ad rem, also in der Sache, wenn eine „Blau-Blindheit“ nachgewiesen werden kann. Nun gibt es aber Maler, die blaue Bilder malen mit einer ausgewiesenen Bau-Blindheit, wie Beethoven Musik zum Nierknien geschrieben hat, ohne auch nur einen Ton zu hören in der Lage war wie auch einer Stimmen hört, die akustisch für die Außenwelt nicht existieren und die doch zu manchmal fatalen Handlungen auffordern, denen der ‚Hörende‘ folgt.
Anmerkungen:
1 Wir werden dem später beim ontologischen Gottesbeweis bei Gödel wieder begegnen.
2 Kues, Nikolaus v.: Vom Nichtanderen (De li non aliud). Übersetzt und mit Einführung und Anmerkungen hrsg. v. Paul Wilpert, 2. Aufl., Hamburg 1976 (Philosophische Bibliothek Bd. 232)
3 Eine
prägnante, oft zitierte christlich-philosophische Formulierung
der Theodizee lautet:
Entweder will Gott die Übel
beseitigen und kann es nicht:
Dann ist Gott schwach, was auf ihn
nicht zutrifft,
Oder er kann es und will es nicht:
Dann ist
Gott missgünstig, was ihm fremd ist,
Oder er will es nicht
und kann es nicht:
Dann ist er schwach und missgünstig
zugleich, also nicht Gott,
Oder er will es und kann es, was
allein für Gott ziemt:
Woher kommen dann die Übel und
warum nimmt er sie nicht hinweg?
4 Platon selbst nennt ihn "unseren Vater Parmenides" und lässt ihn in seinem Parmenides-Dialog auftreten, wo er sich dialektisch mit Sokrates auseinandersetzt. Im Dialog Theaitetos erklärt Sokrates, Parmenides sei unter allen Weisen der Einzige gewesen, der bestritten habe, dass alles Bewegung und Veränderung sei.
5 Helmut F. Spinner: Begründung, Kritik und Rationalität. Bd. I. Vieweg Braunschweig 1977, S. 128f.
6 Die Metaphysik (lateinisch metaphysica; griechisch μετά metá ‚danach‘, ‚hinter‘, ‚jenseits‘ und φύσις phýsis ‚Natur‘, ‚natürliche Beschaffenheit‘) ist eine Grunddisziplin der Philosophie. Metaphysische Systementwürfe behandeln in ihren klassischen Formen die zentralen Probleme der theoretischen Philosophie, nämlich die Beschreibung der Fundamente, Voraussetzungen, Ursachen oder „ersten Begründungen“, der allgemeinsten Strukturen, Gesetzlichkeiten und Prinzipien sowie von Sinn und Zweck der gesamten Realität bzw. allen Seins. (Wikipedia)
7 Was aber leider nur all zu häufig geschieht und die Lekture philosoiphischer Schriften teil erheblich erschwert und verwirrend macht.
8 Die
Person P nehme an, dass S sei. Dann stützt sich Ps Annahme auf
einen Grund: Wissen, eine Erzählung, eigene Erfahrungen,
Meinungen oder vieles mehr (Doxa). Dass S sei, ist also keine bloße,
sondern eine begründete Annahme. Bis zur Entkräftung oder
Widerlegung dieses Grundes wird P annehmen, dass S sei.
Genauso
verhält es sich mit der gegenteiligen Annahme, dass S nicht
sei. Hat P weder Grund für die Annahme, dass S sei, noch für
die, dass S nicht sei, so hat P keine Annahme.
Also: Ohne Grund
keine Annahme. Und ein Grund stützt nur eine der beiden
gegensätzlichen Annahmen, nie beide. Also kann P nicht
gleichzeitig annehmen, dass S sei und nicht sei. Deswegen ist es
möglich, dass jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht.
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