Das Menschenbild der Stoa und Epikureer.
Franz Rieder • (Last Update: 22.03.2017)
Die Stoa hat kein eigenes philosophisch-anthropologisches Menschenbild formuliert, sondern das platonische und das aristotelische versucht zu einer Synthese zu bringen.
Die Einbettung des Menschen in die
Natur, wie das von Aristoteles formuliert worden ist, wird in der
Stoa noch verstärkt und die Natur als Ganzes und ihre
existierenden Formen teleologisch auf den Menschen bezogen. Kurz
gesagt: sie ist für den Menschen da.
Umgekehrt wird aber in
der Stoa „naturgemäßes Leben“ (te phýsei
zen) zum höchsten Ideal stilisiert. Was eben das Denken noch
ausgeschlossen hat, wird gleichsam durch Idealisierung wieder
versucht, hereinzuholen. Diese „Psychologie“ ist
vielfältig untersucht und wird an anderer Stelle gewürdigt
werden. Hier interessiert nur, in wie weit das Ideal eines
naturgemäßen Lebens einer Bestimmung des Menschseins
entspricht, und das tut es nicht.
Die platonische Unterscheidung von verschiedenartigen Seelenteilen mit unterschiedlichen, teils gegensätzlichen bis hin zu irrationalen Neigungen wird auf bis zu acht Sinne erweitert. Das sind die uns bekannten fünf Sinne plus Zeugungspneuma, Sprachpneuma und ein zentrales Führungspneuma, das die Stoiker Hegemonikón oder Dianoetikon nannten.1
Es ist das „edelste“ Seelenvermögen und es führt alle Seelenvermögen zu einer Einheit zusammen, von der alle Kräfte ausgehen, alle Vorstellungen, alle Begehrungen und der Verstand selbst.2
Die „Seele“
in eben dieser Hinsicht, prägt das stoischen Menschenbild. Die
Seele eines irdischen Lebewesens (psyche) ist in ihrer Gesamtheit
eine spezielle Erscheinungsform des Pneuma, der Weltseele. Die
Einzelseele von Mensch und Tier entsteht zwischen Zeugung und Geburt,
indem sich das relativ dichte Pneuma in die feinere Qualität
der Psyche umwandelt; dieser Prozess wird mit der Geburt
abgeschlossen.3
Die
menschliche Seele hat als Besonderheit einen „herrschenden
Teil“, also das Hēgemonikón, der die
Tätigkeiten des Intellekts ausführt und von dem auch alle
emotionalen Antriebe und überhaupt jede psychische Aktivität
ausgeht. Dort werden alle Eindrücke und zwar die über die
Sinne vermittelten Eindrücke der äußeren wie der
inneren (innere Spannungen) Wahrnehmungen aufgenommen und gedeutet,
worauf auch die Selbstwahrnehmung des Individuums beruht.
Bis hierher bereits sehen wir, dass die
Stoa das Besondere, die Seele eines irdischen Lebewesens (psyche) als
Besonderung des Allgemeinen (Weltseele) versteht und dass sie die
Psyche als eine einheitliche Instanz begreift, von der alle
Gefühlsregungen und alle Entscheidungen, unerwartete, falsche
und auch schädliche ausgehen.
Gleichwohl aber blieben sie der
aristotelischen Bestimmung des Menschen aus dem Primat der Vernunft
(logos) treu. Denn unerwünschte und schädliche
Gefühlsregungen erklärten sie als Fehlfunktionen des
Hēgemonikón, wobei Fehlfunktion meint, dass die
Psyche von falschen Einschätzungen, insbesondere in
Überschreitung der Grenzen des Angemessenen geleitet ist.
So wurde das gesamte Gefühlsleben letztendlich doch auf rationale Vorgänge in der Seele zurückgeführt und was als emotionaler Konflikt erscheint, ist demnach nur Ausdruck eines Schwankens der Vernunft, gleichsam als Option zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten und der Frage, welcher Vorstellung sie letztlich zustimmen soll.
Mit dem Hēgemonikón betritt zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie eine Bestimmung des Menschen die Bühne, auf der Verstand, Emotion, äußere und innere Wahrnehmung, Irrtum sowie Fehlfunktionen eine Einheit bilden.
Gleichwohl letztlich der Mensch als
vernunftbegabtes Wesen bestimmt ist, hat die Stoa das Menschenbild um
einige wertvolle Gedanken bereichert. Die Einheit des Menschen wurde
in der mittleren Periode der Stoa noch um eine andere Bestimmung der
Seele ergänzt.
Panaitios von Rhodos bestimmte im 2.
Jahrhundert v. Chr., dass die Seele mit dem Körper sterbe. Und
obwohl der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele fester als fast
alles andere in der griechischen Philosophie verankert war, vertrat
auch sein Schüler Poseidonios den Gedanken, pointiert dahin
gehend, dass die Seele vor der Entstehung des Körpers und auch
nach dem Tod existiert, hielt er aber an ihrer Vergänglichkeit
fest.
In der jüngeren Stoa, der römischen Kaiserzeit,
vermieden Seneca und Mark Aurel eine eindeutige Festlegung
hinsichtlich der Frage, was beim Tod aus der Seele wird, doch stand
auch für sie fest, dass ein Fortbestehen der körperlosen
Seele zeitlich begrenzt und Unvergänglichkeit auszuschließen
ist. Erst das Christentum setzte die Unsterblichkeit der Seele wieder
auf die theologische Agenda.
Die Bestimmung des menschlichen Daseins
als ein endliches Dasein, dem sowohl Körper als auch Geist,
wollte man sie denn überhaupt trennen, eben der Endlichkeit
unterliegen, wie es über zweitausend Jahre später Heidegger
formulierte, hat hier in der Stoa ihren Ursprung.
Das Hēgemonikón
ist Einheit und zwar Einheit von Verschiedenem wie die Triebe und
alle anderen Seelenteile, die sich von Natur aus dem leitenden Geist
fügen, der dann auch Nous oder Logos genannt wird.
Fügen sich Seelenteile nicht, dann ist das anormal und eine Krankheit. So steht in der Mitte des stoischen Menschenbildes auch der vernünftige Mensch, der zugleich auch der normale, gesunde und gattungsmäßig „allgemeine“ ist. Die Vernunft findet hier ihre philosophisch-anthropologische Bestimmung als das, was dem Menschen allgemein und wesensmäßig von Natur aus gegeben ist.
Logisch konsequent folgt daraus dann
auch die Bestimmung des einzelnen Menschen, welcher der gemeinsamen
Vernunft und damit der Teilhabe am öffentlichen Leben in der
Gesellschaft unangepasst im Sinne von „beraubt“ ist als
Idiot bzw. als Privatmann.
Denn der, der mit seinen Trieben und Affekten nicht zurechtkommt, und
dies gilt auch für den unreifen Menschen bis etwa zur Pubertät,
ist krank und also „eigen“ (griech. idion).
Der
„Idiot“ (griech. idiótes = Einzelner)
oder „Privatmann“ ist wie ein Tier, das nur Anlagen zur
Vernunft (Instinkte) hat, aber eben „krank“ ist, weil er
der seinen eigenen, auf sich bezogenen „Instinkte“
übergreifenden Weltvernunft beraubt ist.
Das
stoische Denken demonstriert in seinem Menschenbild nicht nur ein
höchst problematisches Denken, das alles, was bestimmend für
den Menschen ist, dem Menschen allgemein als unveränderbares
Oktroy, als Angeborenes bestimmt. Es demonstriert auch den
folgenschweren Umgang mit dem neuentdeckten, begrifflichen oder
kategorialen Denken, als das, was als Allgemeines bestimmt ist, nun
dem Besonderen (Mensch – unreifer Mensch) undifferenziert und
mit allen Wertungen pejorativ zugeschrieben wird.
So materialisiert sich eine über die Menschen stehende Weltvernunft in den „Vernunftsamen“ (lógoi spermatikói) und im Verbund mit dem Determinismus des Weltablaufes nach dem Geschick (Anánke) bestimmt sich die inhaltliche Gleichheit des Denkens und das vernunftbestimmte Wollen der Menschen. Der optimistische Glaube der Stoa, dass jeder Mensch nicht nur mit Vernunft ausgestattet ist, sondern sie selbst auch erleben kann, steht dem eher pessimistischen Glauben Platons gegenüber, wonach nur einige wenige, angestoßen von überragenden Lehrern den Ideen teilhaftig werden.
Indem dem stoischen Denkens gemäß die Weltvernunft in jeder Seele sich materialisiert, gleichsam dort Wurzeln schlägt (griech. emphytoi logoi), was auf die Lehre von den „eingewurzelten Ideen“, die neben der platonischen Lehre von den „eingeborenen Ideen“ verweist, wird sie aufgefasst als eine „Erkenntnis“, ein „Wissen“ apriori und erzeugt als diese bereits eingewurzelte Idee allen Menschen allgemeine bzw. „gemeinsame Meinungen“ (koinai ennoiai, lat. opiniones communes) über die wesentlichen, also allgemein gültigen Dinge und ist so gedacht zugleich die Grundlage aller Wahrheit und ihrer prinzipiellen Erkenntnis oder potentiellen Erkennbarkeit durch jeden einzelnen Menschen und betrifft damit auch alle ethisch-rechtlichen Meinungen, Überzeugungen und Gesetze.
Wir wollen an dieser Stelle nur kurz anmerken, dass hier einer der großen Streitpunkte der philosophischen Erkenntnistheorie verankert ist, dem wir unter dem Topos der platonischen Anamnesistheorie (Anamnesis auch Anamnese, griech. ἀνάμνησις anámnēsis „Erinnerung“) später eingehender folgen werden, bildet er doch die Schnittstelle zwischen der griechischen und der neuzeitlichen Transzendental-Philosophie Kants einerseits und der Existenzialontologie seit Martin Heidegger andererseits.
Der Horizont des stoischen Denkens ist nicht neu, sondern liegt innerhalb eines Universaldeterminismus, der das gesamte griechische Denken seit Sokrates umfasst. Der Mensch ist durch die Notwendigkeit des Schicksals, des Fatum, bestimmt. Alles, was der Mensch wissen kann, was er erstrebt und auch sein ganzes Handeln unterliegt dem Schicksal.
Das stoische Menschenbild entspricht der
antiken griechischen Vorstellung der Person (griech.
πρόσωπον/prosopon = Gesicht,
lat. persona = Maske) als eines Schauspielers auf einer
Theaterbühne, der in seinen Rollen und Funktionen scheinbar
selbst identisch ist mit einer Kollektivseele, der aber lediglich in
seinen Einstellungen, seinem Wissen, Leistungen, Pflichten, Ämtern
etc. die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen erfüllt.
Von
Beginn an ist der Mensch bestimmt (bewegt) von seiner kollektiven
Mitgift, von der „eingewurzelten Vernunft“, die ihm
seinem Platz, seine Rolle und Funktion je nach seinen angeborenen
Fähigkeiten in der Gemeinschaft zuweist. Und der Mensch selbst
hat für sich die Aufgabe, gleichsam als eine Art Rechtsperson in
Selbstverantwortung zur vernünftigen Ausgestaltung so
beizutragen, dass ein harmonisches Leben in der Gemeinschaft möglich
wird, ja gelingt. Er soll dazu den ethischen Anforderungen gerecht
werden, lernen, was gut ist und was schlecht, was Recht ist und was
Unrecht und die Gemeinschaft darf das von ihm auch fordern.
So „antik“ dieses Menschenbild auch anmutet, glauben viele unserer hochmodernen Zeitgenossen doch noch an derartigen Unfug. Es bedarf auch nur leichter sprachlicher Umpointierungen, dann wird die Nähe zwischen stoischem und modernen Menschenbild auf erschütternde Art und Weise deutlich. Recht nachhaltig „verwurzelt“ ist der Glaube an der Vorgängigkeit (Fatum) der Schöpfung in religiöser und wissenschaftlichen Hinsicht gleichermaßen, an der relativen Sinnlosigkeit der menschlichen Freiheit im Alltag des „Jedermann“, in dem vielleicht noch Reste von individueller Freiheit in Kunst und Reichtum verwirklicht werden können. Doch dazu später mehr.
Was wir festhalten ist, das das stoische Menschenbild den einzelnen Menschen fundamental in gesellschaftlichen Beziehungen vorstellt. Es gibt keine Trennung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, beide sind miteinander verwoben, vermittelt. Die vermittelnde Instanz ist das Allgemeine, die Gesellschaft oder die Gemeinschaft, was uns jetzt nicht so sehr zur Differenzierung und genaueren Bestimmung anregt, sondern zuerst nur festhalten läßt, das dies so ist.
Der Mensch wird hineingeboren in eine
ihm vorgängige Welt, deren Sein im Sinne von Regeln, Gesetzen,
Normen, Erwartungen an ihn etc. ihn bestimmt. Die konkrete
Vermittlung des gesellschaftlichen Seins erfolgt als ein Lernprozess,
ganz im Sinne der (weiterentwickelten) platonischen Anamnesistheorie,
die Platon in den Dialogen Menon, Phaidon und Phaidros entfaltet
hat.
Dem zufolge ist alles Wissen in der unsterblichen Seele immer
schon vorhanden, aber bei der Geburt des einzelnen Menschen, evident
allemal, nicht vorhanden (Hier ist der Anknüpfungspunkt der
Monadentheorie, der Determinationskonzeption und der
erkenntnistheoretisch-logischen Ansichten von Leibniz).
Dieses
Nichtvorhanden-Sein versteht Platon aber als ein zeitweises und
prinzipiell vorübergehen könnendes Vergessen-Sein, das
durch die Anstöße, die z. Bsp. ein Lehrer gezielt an den
„Schüler“ weiter gibt, aktiviert wird, sich die
Seele des Lernenden also an etwas erinnert, was ihr eigentlich
bereits vertraut ist. Auch hier reichen kleine sprachlicher
Veränderungen und man hat die Auffassung eines moderne Bildungs-
und Lernkonzepts, welches davon ausgeht, dass Lernen immer auch
Vermittlung von „Werten“ ist, die nicht durch den
einzelnen menschlichen Intellekt bestimmt werden.
In der Stoa wird natürlich davon ausgegangen, dass diese Wissen apriori nicht nur besteht, sondern dass auch kein neues Wissen erschaffen wird, sondern der Mensch sich bestenfalls nur an das vergessene erinnert und somit auch jede Erkenntnis auf Erinnerung beruht und der Seele im besonderen potentiell zu Verfügung steht, es aber der Anstöße, der Vermittlung durch andere Personen bedarf, weil der einzelnen Mensch nicht direkten Zugriff darauf hat.
Diesem Menschenbild folgt Seneca in
seiner Formel:
„Ducunt volentem fata, nolentem trahunt.“
(Die Schicksale geleiten den Wollenden, den Widerstrebenden ziehen
sie“4.
Den
Weisen also geleitet die „Einsicht in die Notwendigkeit“,
einer der großen Topoi, die unser Denken nachhaltig bestimmt
haben, den anderen zieht sein eigener Wille zur „freien“
Entscheidung, aus dem Epikur ein Ideal gemacht und ein Denkmal im
Hedonismus als Weg, weg von der Gemeinschaft hin zu sich selbst,
gesetzt hat.
Was jenem ein Tor, ist dem anderen
Ideal. Jenem gilt der Weise (Philosoph), der zudem auch noch
unerschütterlich durch äußere Schicksale (ataraxia)
stets und ganz der Vernunft verpflichtet, untereinander vom gleichen
Stand und mit allen anderen Menschen in gutem, harmonischen
Einvernehmen lebt, aus dem sich zugleich auch seine
ethisch-moralische Verpflichtung und Solidarität mit den anderen
Menschen ergibt – so sie nicht idiotés sind –
als Idealbild vom Menschen.
Als konkrete Vorbilder galten sowohl
Kaiser Mark Aurel wie der Sklave Epiktet, beide ihren Platz in der
Welt erkennend (οἰκείωσις
von griech oikeioun „zu eigen machen“,
„Zueignung“ oder später auch
„Selbsterhaltungstrieb“), worin man auch den Vorgänger
einer in Ständen organisierten Gemeinschaft bzw. Staates sehen
mag.
Eine letzte Eigenschaft im stoischen Menschenbild skizziert sich als eine Art „Lebensphilosophie“, die darin besteht Körper und Seele durch „Natürlichkeit“ (te phýsei zen), durch ein Leben in enger Verbindung mit der Natur, gesund zu halten. Das Prinzip der Oikeiosis begründet die stoische Ethik, wonach es darauf ankommt, im Sinne einer rechten, also allgemein verbindlichen Vernunft, der eigenen und der universalen Natur entsprechend zu leben.
Ein Irrtum der Neuzeit liegt darin zu
meinen, dass der Mensch selbst die Entscheidung nach dem rechten
Leben trägt, das Verb oikeiousthai aber mithin keine
mediale, sondern grammatikalisch eine passive Form ist, also nicht
der Mensch als Subjekt handelt, etwa nach seinen Zielen und Zwecken
oder Interessen, sondern die Natur, die für die Stoiker ein
göttliches, mit Vernunft begabtes Lebewesen ist.
Oikeiosis
ist also ein angeborenes bzw. eingewurzeltes Prinzip, dem sich der,
dem eigenen Willen oder seinen Interessen folgende Mensch
entgegensetzt, es gewissermaßen sich auch noch selbst
schädigend verletzt.
Der rechten Vernunft nach zu leben heißt, der Natur angemessen, insofern Selbsterhaltung und Arterhaltung, Liebe zu sich selbst, zu den Nachkommen und zu den Mitmenschen einschließt. Das, im intransitiven Sinne gemeinte Ziel des rechten Lebens ist die Selbsterhaltung des Kosmos, der für die Stoiker ein Gott ist, der durch das Überleben seiner Geschöpfe und deren harmonischen Lebensgemeinschaften selbst überlebt. Dies läßt auch nicht zu, hier eine Art anthropologische Argumentation zu versuchen, bei der Ontogenese und Phylogenese wie etwa bei Charles Darwin miteinander als Einheit verbunden sind, denn die würde ja notwendigerweise jeden Primat von Vernunft zugunsten von Naturgesetzen ablehnen müssen.
Das epikureische Menschenbild.
Wo anders, als in einer
„Gartenphilosophie“ sollte schon das „Individuum“
entdeckt werden?
Nun gilt ja in der „Schulphilosophie“
als ausgemacht, dass das Individuum, bzw. die res
cogitans mithin die moderne Form von Subjektivität
mit Spinoza und Descartes in die Welt kam. Verengt gedacht, stimmt
das auch. Im Garten, wo es ja immer auch um die „rerum natura“
geht, denkt man natürlich weiter, sieht die Natur im Werden,
also kommen und gehen und vieles davon scheint gleich, einiges aber
stets verschieden von Jahr zu Jahr, von Staude zu Staude, wie das
Wachstum im Garten nun mal im Unterschied zum Studierstüblein so
ist.
Dann verwundert es nicht wenig, dass dem stoischen
Universaldeterminismus durch die epikureische Gartenphilosophie –
Garten, weil dort in seinem Athener Garten Epikur sein Lehrinstitut
unterhielt – schnurstracks ein universaler Indeterminismus5
entgegengesetzt wurde.
Die umfassendste Darstellung findet sich in dem Lehrgedicht des Lukrez in „De rerum natura“6, in der man auch recht klar sieht, dass der Ausgangspunkt der epikureischen wie der stoischen Lehre die Philosophie des Demokrit ist.
Nach Epikur und seinen Schülern
besteht der Kosmos zwar ewig aber aus lauter „zufälligen“
Gebilden. Die irdische Welt ist nur eine unter vielen anderen Welten
und der Mensch, auf den es uns innerhalb einer philosophischen
Anthropologie ankommt, ist in seiner Welt zur absoluten Freiheit
verurteilt.
Lukrez im o.g. Lehrgedicht bringt diese Lehre von der
menschlichen „Willensfreiheit“ knapp auf die Formel:
„Sua
cuique voluntas principium dat, et hinc motus per membra rigantur.“
(Jedem gibt sein Wille das Prinzip vor, und von daher werden die
Bewegungen durch die Glieder weitergeleitet).7
In der Geschichte der Philosophie findet man nicht selten, dass auf eine Position kurz darauf oder manchmal auch parallel dazu entwickelt, eine zweite, gegensätzliche Position formuliert wurde. Vieles scheint gegensätzlich im Vergleich zwischen Epikureern und der Stoa, manches aber verdient größere Aufmerksamkeit.
Erklärte die
Stoa alles als Wirkung von notwendigen Gesetzen und deren ewiger,
gleichbleibender Ordnung, so finden wir derart Wirkursachen bei den
Epikureern nicht. Wenn sie von einer Form von Regularität
sprechen, in der sich Konstellationen atomarer und molekularer
Komplexe wiederholen, dann sind dies keine Wiederholungen des
„Immergleichen“, also identischem Geschehen, sondern
zufällige und damit auch nie sichere Geschehen, mithin also
weder vorhersehbar noch gänzlich erkennbar.
Erkenntnis liegt
demnach nur vor als eine Art Doxa (altgriechisch δόξα
dóxa ‚Meinung‘, ‚Fürwahrhalten‘)
bzw. hypolepsis (Aufnehmen), als das, was in den auf
wiederholter Sinneserfahrung beruhenden Meinungen und Vermutungen
intellektuell erfaßt, gedacht und unter Umständen, aber
auch nicht sicher vorausgesehen werden kann. Erkenntnis mag hiermit
sehr große Ähnlichkeiten mit wissenschaftlicher
Hypothesenbildung und deren empirischen Bestätigungen haben.
Wir behalten an dieser wichtigen Stelle aber hauptsächlich den Gedanken fest, dass das epikureische Denken ein Menschild vorstellt, welches im Sinne von Wissen und Handeln mit Nachdruck gegen die stoische Betonung des vernünftigen Gattungscharakters des Menschen sowie der überpersönlichen Vernunft der Institutionen den Menschen aus seiner Individualität bestimmt.
Auf Demokrit und weite Teile der Vorsokratik zurückgreifend gründet dieses Denken in der Annahme, dass der Mensch wie alles andere Seiende nur als atomarer Komplex bzw. als ein Analogon zum „Atom“ (griech. atomos, lat. individuum, dt. Unteilbares) zufällig und endlich existiert, also nicht über eine unsterbliche Seele verfügt, im Gegenteil. Mit dem Tod zerfällt der materielle Körper restlos bzw. löst er sich in seine atomaren Bestandteile auf, die nun frei und disponibel sind für weitere, neue atomare Komplexe, also neue Formen des Seienden, wobei keine notwendige Unterscheidung gemacht wird zwischen verschiedenen Lebensformen, Mensch und Natur.
Diesem
Gedanken, der letztlich auch ein Erlösungsgedanke, eine
Theo-Ontolgie ist, folgen heute alle aufgeklärten und
wissenschaftlichen Denkmodelle. Und zweitausendfünfhundert Jahre
nach Epikur fand diese Philosophie auf ihrem Weg in die Moderne
besondere Betonung in einem anderen Teil der Welt, der
epistemologisch nicht in direkter Folge zum abendländischen
Denkuniversum zählt.
Omar Hajjam, ein persischer Dichter,
fasste den Kerngedanken des epikureischen Denkens in die folgenden
Verse:
„Einen Töpfer hab‘ ich beim Werke
gesehen,
den Krügen Hälse und Henkel zu drehen.
Er
nahm den Stoff zu den Tongeschöpfen
aus Bettlerfüßen
und Königsköpfen.“8
Gegen die Auffassung des zoon politikon, also den Menschen als ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen zu sehen, die die Stoa von Aristoteles übernommen hat, wendet sich klar die politische Anthropologie der Epikureer, insofern sie das soziale Gemeinwesen der Menschen allenfalls als enge, freundschaftliche Partnerschaften zulässt.
Denkt man von der Individualität
ausgehend den Menschen, dann steht man vor dem Problem, von wo aus
und wie, letztlich sogar wozu die Gestaltung der sozialen
Lebensverhältnisse in Anschlag zu bringen sind. Unzweifelhaft
sind all‘ die zwar zufälligen, aber dennoch nicht weniger
bedrohlichen und üblen Schicksalsschläge, gegen die der
Einzelne wenig auszurichten weiß und all‘ die
bereichernden Elemente des gemeinschaftlichen Lebens, die ein
Einzelner schwerlich herstellen könnte noch missen mag.
Den
Epikureern reichten zur Herstellung lebenswerter und bereichernder
sozialer Verhältnisse wie auch zum Schutz der Individuen vor
negativen Schicksalen die Möglichkeiten selbstgewählter
menschlicher Bindungen und Beziehungen. Also rangierten
Freundschaften und familiale Bindungen an oberster Stelle,
öffentliche und institutionelle Errungenschaften galten dagegen
weniger.
Lathe biōsas (griech. Λάθε βιώσας, Lebe im Verborgenen, später Privatleben) wurde zur generellen wie grundsätzlichen Empfehlung, wobei man dabei nicht verstehen sollte, dass diese Maxime unter allen Umständen galt. Sollte jemand den Ehrgeiz am öffentlichen Leben oder an politischer Betätigung lustvoll empfinden, so bringe er seine Belange durchaus zur Geltung. Auch dies dient dem Epikureer als Daseinszweck in einem weit gefassten Lustprinzip, das die Erreichung einer rein diesseitigen Glückseligkeit in einem guten und lustvollen Leben durch vernünftiges Ausleben menschlich-natürlicher, körperlicher und geistiger Triebe, Leidenschaften, Neigungen und Überzeugungen anstrebt. Anderseits „erwächst doch die deutlichste Sicherheit aus der Ruhe und dem Rückzug vor den Leuten“, denn die Lehre Epikurs ist auf das individuelle Lebensglück ausgerichtet, was aber keineswegs mit sinnlicher Lust gleichzusetzen ist, sondern die Freiheit von Furcht und Schmerz meint. Diese Vermeidung von Leid erreicht man, entspricht das Leben einer Askese auf seelischer Ebene, die Epikur wie oben gesehen Ataraxie (ἀταραξία), heitere Seelenruhe, nennt.
Da diese Lehre besonders in neuerer Zeit zur Trivialisierung herhalten muss, sei angemerkt, dass es nicht ganz so einfach von der Hand zu weisen ist, wenn privates Leben zur Rechtsgrundlage von gesellschaftlichem Leben gemacht wird und dies bereits vor zweieinhalbtausend Jahren. Für die Epikureer sind alle Rechtsangelegenheiten Auswirkungen privatrechtlicher Vereinbarungen, also von Verträgen mit privatrechtlicher Geltung, die die einzelnen Individuum gegen gegenseitige Schädigungen schützt.
Hier liegt mehr als unsere neuzeitliche Begründung des Rechts auf der Grundlage privatrechtlicher Vereinbarungen und Verantwortung, was wir im Rahmen unserer politischen Anthropologie noch ausführlicher behandeln werden. So viel nur sei dieser Lehre bis hierhin verdankt, dass sie sowohl aus ihrer historischen Rücksicht wie auch – ungewollt – in historischer Weitsicht alles gesellschaftliche Handeln, also auch das ökonomische Handeln in individueller Freiheit und Verantwortung verankert und nicht wie die Stoa und ihre Vordenker in institutionellen, öffentlich-rechtlichen Rechtsbegründungen sucht.
Selbst in entwickelten Gesellschaften – wir werden auch noch etwas über diese Art der Entwicklung sagen – wie unserer, in der alles menschliche Handeln in politischen, institutionellen, also impersonellen Strukturen und Gesetzen organisiert zu sein scheint, bleibt alles menschliche Handeln dem Schein zum Trotz rechtlich gesehen eine „private“ Angelegenheit, insofern jeder Einzelne alle seine Handlungen verantwortet, selbst die, die „nur“ sein politisches Votum repräsentieren. Und da wo dies nicht zu geschehen scheint – und die Fälle sind ubiquitär –, hat sich die politische Abkehr vom „Privatrecht“ mehr als nur fatal, auch als politisch unhaltbar und wirtschaftlich katastrophal herausgestellt. Ein Fazit vorab: in freien Gesellschaften, jedenfalls der Absicht nach und wie unvollkommen auch immer verwirklicht, muss Recht auch privatrechtlich begründet und alles Handeln damit auch privatrechtlich verantwortet sein.
Neben dieser ontologischen, bzw. politisch-anthropologischen Grundeinsicht, der viel mehr Relevanz gegenüber den stoischen Lehren gebührt hätte, als dies der Fall war, steht noch eine weitere anthropologische Wesensbestimmung zu unrecht am philosophischen Pranger.
Die Lehre vom guten und lustvollen Leben zur Erreichung diesseitiger Glückseligkeit ist fast zu allen Zeiten von allen anderen philosophischen Schulrichtungen bekämpft, ja zu unterdrücken versucht worden. Verwunderlich und eigentlich auch gar nicht nachvollziehbar ist diese philosophische Leidenschaft dagegen, zumal ja auch nicht ganz verstanden, worum es den Epikureern geht. Denn allein schon vordergründig predigen sie kein banales Lustprinzip im Sinne sündiger, sinnlicher Erotik, wie man dies mit dem Aufkommen des Christentums missverstehen konnte. Im Unterschied zu den hedonistischen Schulen der Kyrenaiker (Aristipp, Hegesias), die mit einigem Unrecht ihre Herkunft aus dem epikureischen Denken behaupten, haben diese jener aufkommenden „Metriké téchne“ der Lustbilanzierung nie das Wort geredet. Das epikureische „Lustprinzip“ ist kein, auf messbarer Steigerung quantifizierter Lusterlebnisse ausgerichtetes Prinzip, sondern die prinzipielle, geistige Vertiefung in die Frage, was Lust und wahre Glückseligkeit überhaupt bedeuten kann, mithin also deren krasse Konterkarierung, die, a propos, gar nicht so krass hätte ausfallen müssen.
Hinzu kommt, dass die Epikureer eine schier ausgeklügelte Differenzierung zwischen allen möglichen Formen und Arten von körperlichen und geistigen Genüssen und Schmerzen vorgenommen haben, an deren Ende die Kardinaltugend steht, eher geistige Genüsse zu erstreben als körperliche, so dann der Mensch auch nicht jede mögliche Lust erstreben und nicht jeden möglichen Schmerz vermeiden muss. Nichts anderes besagt die schon erwähnte Ataraxie, die zu erreichen das Ziel und höchste Gut im menschlichen Leben ist: „He tou somatos hygieia kai he tes psyches ataraxia“ (die Gesundheit des Leibes und die Unerschütterlichkeit bzw. Gemütsruhe der Seele).
Der Vorwurf vonseiten der meisten Philosophen, Epikur’s Lehre sei atheistisch, kann stehen bleiben. Der Vorwurf eines sensualistischen Materialismus hingegen dürfte schwierig aufrecht zu erhalten sein. Eine Metriké téchne war dieser Lehre fremd und gebührt all‘ den hedonistischen Schulen im Anschluss bis hin zur Psychoanalyse von Sigmund Freud, jedenfalls bis zu seiner Schrift: Jenseits des Lustprinzips.
Wahrscheinlich erregte die Lehre wegen der Auffassung von der grundsätzlichen Nichtexistenz von Kausalität in der Natur, von der Auffassung der Regularität von sich immer wieder zufällig wiederholenden Konstellationen atomarer und molekularer Komplexionen die Gemüter. Nicht weniger als die Grundlosigkeit der menschlichen Existenz, ihr zufälliges, kontingentes Sein, welches gleichzeitig den Menschen in die grundsätzlich eigenverantwortliche, freie Gestaltung seines Lebens entlässt, ist mit Sicherheit ein Frontalangriff auf die Philosophie gewesen. Wo derart Zufälle in Natur und Mensch walten, ist natürlich der Primat des Denkens in Frage gestellt. Gleichzeitig auch jeder Gegenstand des Denkens als ein intelligibler, konsistenter Gegenstand, sei es Natur oder Mensch, und damit auch nicht eingefügt in spezifische Sinnzusammenhänge.
Eine Lehre, in der Materialismus, Atheismus, Individualismus und Indeterminismus eine Synthese eingehen, konnte nicht akzeptiert werden. Aber gerade ähnliche Lehren bzw. Teile davon beherrschen heute das gesamte westliche Denken und dessen Diskurse und stehen als Ausdruck typisch westlicher Dekadenz in weiten Teilen nicht-abendländischer Kulturen in der Kritik, werden denunziert, ja bekämpft. Aber das soll nicht zu ernst genommen werden, was im Namen des Islam an kultureller Kritik kursiert, geht es doch nicht bei alledem um Philosophie versus Religion.
Anmerkungen:
1 Diog. Laert. VII, § 110.
2 Diog. Laert. VII, § 169 hêgemonikon de einai to kyriôtaton tês psychês, en hô hai phantasiai kai hai hormai gignontai, kai hothen ho logos anapempetai)
3 Anthony A. Long: Stoic psychology. In: Keimpe Algra u. a. (Hrsg.): The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Cambridge 1999, S. 563f.
4 Seneca, 107. Brief
5 Indeterminismus
(lateinisch), in der Wissenschaftstheorie u.a. von John
Dupré, Nancy Cartwright und Patrick Suppes vertreten, ist
eine philosophische Lehre, nach der ein Geschehen nicht oder nicht
nur durch kausale Faktoren bestimmt wird und steht somit als
Gegensatz zum Determinismus.
In der Ethik und in der
Religionsphilosophie bildet er häufig die theoretische
Grundlage zur Bestimmung des freien Willens des Menschen. In der
Physik, insbesondere in der Quantenmechanik, bezeichnet der
Indeterminismus die Existenz des echten Zufalls, d.h. der echten
Unvorhersagbarkeit von Ereignissen.
Anders dagegen unterscheidet
die Theoretische Informatik zwischen deterministischen und
nichtdeterministischen Algorithmen, wobei nicht die Existenz eines
echten Zufalls das wesentliche Unterscheidungskriterium ist, sondern
der Nichtdeterminismus gegenüber dem Indeterminismus auf einer
Art Gleichzeitigkeit (Parallelität) basiert, was dem Erreichen
eines Ziels auf eine nicht-zielgerichtete Weise entspricht, die hier
eine Art Unnachvollziehbarkeit und damit Zufälligkeit (noch
nicht verstanden sein) markiert.
6 Über die Natur der Dinge oder Vom Wesen des Weltalls, Titus Lucretius Carus, genannt Lukrez
7 Lukrez, De natura rerum II, 260
8 Vgl. The Quatrains of Abolfat’h Ghia’th-e-din Ebrahim Khayam of Nishabur, Hg.: Tahrir Iran Co., Teheran o. J., S. 242
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