Die vier Ursachen nach Aristoteles
Franz Rieder • (Last Update: 22.03.2017)
Dieses Schema der vier Ursachen-Fragen
gilt nach Aristoteles für alle Kunst, soll in Absehung von
jeglicher Veränderung angewandt werden können. Zur
Formursache (Idee) des Kunstwerks liest
man:
„Was nun das Werden durch die Kunst betrifft, so
findet dieses bei den Dingen statt, deren Idee in der Seele vorhanden
ist.“1.
Der
Unterschied zwischen Platon und Aristoteles scheint minimal, hat der
Künstler bei beiden doch die Idee und die Form bzw. den Plan der
Verwirklichung in seinen Vorstellungen. Allein, was bei Platon noch
Idee ist und aus einem transzenden Bereich des Denkens kommt und nie
ganz „geschaut“ werden kann, wandelt sich bei Aristoteles
zum Begriff und wird so voll und ganz dem Denken zugänglich. Das
„Geheimnis“ der Idee ist gelüftet, ist nun eine
Sache der Rationalität.
Die aristotelische Formursache kennt keinen „Furor“ mehr, kein „Jenseits“ von Ideen, und im Vorgriff auf späteres weist sie auch nicht an einen Ort des Unbewussten als Sphäre kreativer Energien noch gerinnen die Artefakte aus göttlicher Inspiration. Alles geschieht diesseits im Seienden, in klaren Vorstellungen, Konzepten und Begriffen. Und nur so hat auch der Betrachter die Möglichkeit, ein Kunstwerk zu erkennen.
„Was
entsteht, entsteht bald durch Gestaltwandel, z.B. eine Bronzestatue;
bald durch Hinzufügen von Stoff, z.B. alles was wächst;
bald durch Wegnahme von Stoff, z.B. eine aus dem Stein gehauene
Hermessäule; bald durch Verbindung mit anderen Stoffen,
z. B. beim Hausbau; bald durch qualitative Änderung, z. B. wenn
der Werkstoff sich selbst ändert.“2.
Dieser
Kerngedanke bezüglich der stofflichen Ursachen eines Kunstwerkes
steht, verwunderlich, in der Physik, gehört damit also in die
epistéme theoretiké. So klar formuliert hier
auch die noch heute geltenden Unterscheidungen zwischen Plastik und
Skulptur sowie Installation nachzulesen sind und der Zusammenhang von
Ideen und Stofflichkeit in einen Zusammenhang gebracht sind, so wenig
sagt Aristoteles aus über einen bestimmten Zusammenhang zwischen
bestimmten Ideen und der Realisierung in einer bestimmten
Stofflichkeit.
Und bleiben wir weiter in seinem Denken
und seiner Sprache, dann stellen wir fest, dass Aristoteles an dieser
Stelle einem recht einfachen Abbildungsmodell folgt, das er auch auf
die Sprache als solches und die Hermeneutik anwendet:
„Die
Sprache ist Zeichen und Gleichnis für die seelischen Vorgänge,
die Schrift wieder für die Sprache. Und wie nicht alle dieselben
Schriftzeichen haben, bringen sie auch nicht dieselben Laute hervor.
Die seelischen Vorgänge jedoch, die sie eigentlich bedeuten
sollen, sind bei allen die gleichen, und auch die Dinge, die jene
Vorgänge nachbilden, sind die gleichen.“3
Zur aristotelischen Hermeneutik werden wir zwangsweise bald kommen,
aber folgen wir noch ein wenig den Ausführungen zur Kunst und
den aristotelischen Wirkursachen.
Hier äußert sich
Aristoteles recht klar:
„Kunst und Fertigkeit, etwas mit
bewußter und richtiger Überlegung hervorzubringen, sind
ein und dasselbe. Alle Kunst hat es mit dem Werdenden, mit dem
künstlerischen Ausführen und mit der Betrachtung, wie etwas
entsteht, was sowohl sein als auch nicht sein kann und deren Quelle
in den Machenden und nicht in dem Gemachten liegt, zu tun. Denn die
Kunst hat es weder mit den Dingen zu tun, die von der Notwendigkeit
her sind oder werden, noch mit solchen, die von Natur aus sind oder
werden.“4
Hinterfragt man aber diese Stelle, dann stößt man schnell
in dunkle Bereiche des Denkens vor. Etwas mit bewusster und richtiger
Überlegung zu tun, ist leicht zu verstehen, aber was
unterscheiden dann den Anbau von Tomaten von der Schaffung der Mona
Lisa?
Hat Kunst es mit dem Werdenden zu tun? Nach Platon
vielleicht noch ein wenig, als da ja noch ein Reich der Transzendenz
existierte und das Kunstwerk den zeitlichen Status der Ideen
gewissermaßen verkörperte. In einer Welt der Kategorien
ist das Werden schon exterminiert. Es ist allenfalls ein Momentum
zwischen Sein und Nichts, der weitesten und gleichzeitig einfachsten,
naheliegendsten aller Vorstellungen von Gegensätzen, wie wir
dies ja heute als Inbegriff und logisches Grundmuster der
Digitalisierung kennen: als binären
Code.
Wenn die Dichtkunst etwa von Homer in der Odyssee die
Unsterblichkeit der Götter und die damit verbundenen
Glücksvorstellungen der Menschen zur Vorstellung und auf der
Bühne zum Gesamtkunstwerk erhebt, dann keimt die Frage, wie das
in der Malerei nach Aristoteles geschehen soll. Dem folgt natürlich
sofort die nächste Frage: Gelten diese Ausführungen bei
allen Künsten? Dem Theater, Dichtung, Tanz, Musik, Plastik und
Bildhauerei?
So wenig die Idee der Unsterblichkeit sich in ein nebulöses Werden zwischen Sein und Nichts packen lässt, so wenig gelten die aristotelischen Bestimmungen der Kunst allgemein über alle Kunstgenres.
Die strikte Trennung des Werkes als Artefakt von der Natur hat sicherlich der Kunst und dem Künstler einen Freiraum geschaffen, als ihr Schaffen selbst nicht mehr gebunden ist an die Natur und ihren Gebilden. Aber ist der Künstler wirklich die Wirkursache? Die Frage spitzt sich sogar noch erheblich zu, wenn man bedenkt, dass alle vier Ursachen – auf die vierte kommen wir sogleich – eigentlich keinen Unterschied machen und allenfalls die Wirkursache die Qualität einer Ursache trägt. Alle zusammen sind aber lediglich Erklärungs- bzw. Betrachtungsweisen (keine Kausalbeziehungen), warum ein vom Menschen geschaffener Gegenstand, auch ein Kunstwerk, in einer bestimmten Eigenart existiert.
Das allerdings ist bisher zu wenig, um Kunst zu „erklären“. Deshalb braucht es noch eine vierte Ursache, die causa finalis oder Zweckursache, die angibt, weswegen oder zu welchem Ziel etwas geschaffen worden ist. Schauen wir nun hierhin, sind wir weder klüger noch ist Kunst nun endgültig vom Handwerk etc. differenziert. Außer in dem Fall – der übrigens heute als institutionelle Kunsttheorie imponiert – dass „jemand“ institutionell wichtig im Kunstbetrieb etwas als Kunst erklärt und dann ist es Kunst.
Mitnichten findet sich hier auch nur
annähernd eine Bestimmung von Kunst, wenn gleich dies einige der
kunstphilosophischen Autoren gerne sehen möchten.
„Überhaupt
ist es so, daß die Kunst vollendet, was die Natur nicht zu
vollenden vermag, oder daß sie nachahmt.“5.
Weder
ist der Bau eines Flugzeuges Kunst, obwohl viel der Nachahmung von
Natur in ihm steckt. Und was Natur nicht zu
vollenden vermag, ist generell und schlechthin eine Bestimmung der
menschlichen Arbeit. Bleibt noch ein ominöses
Kunst-Ideal, dem der Künstler folgt, um beim Rezipienten eine
(gewünschte) Wirkung hervorzurufen. Da der Künstler aber
nicht der Erfinder des Ideals ist, käme er hier auch nicht als
Wirkursache in Frage.
Und das Ideal
selbst, das Aristoteles fast schon in Worten von Sokrates beschreibt,
als es um die Idealisierung von Natur geht:
„Von den
nicht schönen Menschen unterscheiden sich, wie man sagt, die
schönen, und das mit Kunst Gemalte unterscheidet sich von der
Wirklichkeit durch das Nämliche, daß bei ihm das hier und
dort zerstreut Vorhandene in eines verbunden ist, da der eine, wenn
man sie getrennt betrachtet, ein schönes Auge, der andere einen
anderen Körperteil schöner haben kann als auf dem Bild.“6,
ist, was Nietzsche den zerstückelten Leib des Sokrates genannt
hat:
„Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei so
Abscheuliches, dass ich nicht von Jeglichem reden und von Einigem
nicht einmal schweigen möchte: nämlich Menschen, denen es
an Allem fehlt, ausser dass sie Eins zuviel haben – Menschen,
welche Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein grosses Maul
oder ein grosser Bauch oder irgend etwas Grosses, – umgekehrte
Krüppel heisse ich Solche“.
„Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und sagte endlich: »das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross wie ein Mensch!« Ich sah noch besser hin: und wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas, das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf einem kleinen dünnen Stiele, – der Stiel aber war ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm, konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am Stiele baumelte. Das Volk sagte mir aber, das grosse Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein grosser Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem Volke niemals, wenn es von grossen Menschen redete – und behielt meinen Glauben bei, dass es ein umgekehrter Krüppel sei, der an Allem zu wenig und an Einem zu viel habe.“
Nietzsche hält im Rekurs auf Anselm
Feuerbach gegen das Gesamtkunstwerk des antiken griechischen Theaters
diese „neue“ Betrachtung von Kunst, die ein Kunstideal
konstruiert, das aus lauter zerstückelten Menschen z.B. besteht.
Der Künstler nimmt dann von dem einen das, von einem anderen
jenes, sagen wir ein schönes Auge, ein schönes Ohr etc. und
setzt es zusammen zum Ideal des schönen Antlitz:
„…wir
sind gleichsam durch die absoluten Künste in Stücke
zerrissen und genießen nun auch als Stücke, bald als
Ohrenmenschen, bald als Augenmenschen usw.“, und
weiter:
„Sicher ist, daß wir einem solchen
Kunstwerke gegenüber erst lernen müßten, wie man als
ganzer Mensch zu genießen habe: während es zu befürchten
ist, daß man, auch hingestellt vor ein derartiges Werk, es sich
in lauter Stücke zerlegen würde, um es sich anzueignen.“7
Nietzsches existenzialistischer Begriff des „Leibes“ wird uns in einem anderen Zusammenhang wieder begegnen, wenn wir uns mit der Frage nach dem Heideggerschen in-der-Welt-sein und der Endlichkeit des menschlichen Daseins beschäftigen.
Anmerkungen:
1 Aristoteles, Met. 1032 b
2 Aristoteles, Physik 190 b 5
3 Aristoteles, Hermeneutik 16 a
4 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1140 a 9
5 Aristoteles, Physik 199 a 15
6 Aristoteles, Physik 1281 b 10
7 Nietzsche, Das griechische Musikdrama in Nachgelassene Schriften, Kritische Studienausgabe, München Bd. 1, 518f.
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