Was uns bewegt...
Franz Rieder • Philosophische Grundlagen (Last Update: 04.04.2017)
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.i
Eine Philosophie des menschlichen Daseins sucht nach den grundlegenden und für alle Menschen geltenden Bestimmungen. Das Wesen dieser Bestimmungen ist also allgemein bzw. universell. Aber gibt es überhaupt das Allgemeine? Ist das nicht ein wenig zu hoch gegriffen? Es ist gerade eine Auszeichnung, um nicht Bestimmung zu sagen, dass wir das Allgemeine, das Universelle, das Sein, das Ganze, Universum, Gott, Menschheit und viele weitere und andere Universalien denken können, gleichwohl im engeren Sinne, also unter Bedingungen der sinnlichen Wahrnehmung, nichts von alledem existiert. Und wir können nicht nur Universalien denken, wir tun das täglich und wir müssen das tun. Und dies gerade deshalb, weil sie nicht existieren.
Warum fragen wir aber nach dem menschlichen Dasein und nicht etwa nach der menschlichen Existenz? Weil wir zuerst bzw. am Anfang unserer philosophischen Überlegungen fragen müssen nach dem, was ist, weil die grundlegendste Frage und damit der grundlegende Bereich philosophischen Denkens zuerst beschritten werden muss, bevor man in weitere „Details“ gehen kann. Ohne Grundlage kein fester, sicherer Boden für unsere Philosophie.
Grundlegende Fragen betreffen Fragen nach dem, was ist, nach dem Wesen bzw. nach essentiellen und somit nicht nach existenziellen Bestimmungen. Fragen nach dem, was ist, umfassen in der Philosophie den Bereich des Ontischenii, was wir zunächst einfach verstehen als Sein im Wort Dasein. Aber schon an dieser Stelle drängt sich die Frage nach der Bestimmung von Seiendem und Sein erneut auf, war doch eben noch das Seiende das tatsächlich, individuell Seiende und das Sein dagegen etwas Allgemeines? Die Antwort ist einfach, denn mit dem Begriff Sein ist das Sein aller tatsächlich seienden, einzelnen, individuellen „Dinge“ gemeint. Jedenfalls wenn wir ein empirisches, ein physikalisches Denken hinterlegen. Dinge steht nicht zufällig in Anführungszeichen, insofern wir darüber reden, darüber, was eigentlich in unseren Gedanken und Vorstellungen ist, wenn wir über etwas nachdenken, dies nicht dasselbe ist und uns erscheint als in seiner sprachlichen Form als etwas anderes als das Gedachte und Vorgestellte. Wir sagen „Mensch“ und wissen, das ist eine Vorstellung von einem Menschen, weder eines bestimmten noch aller Menschen und haben damit weiterhin keine Schwierigkeiten. Es sein denn, wir sprechen darüber. Dann kann es schnell zu Missverständnissen, ja zum Streit kommen.
Paul Klee, Angelus Novus, 1920
Auch die recht einfach anmutende Feststellung, dass der Mensch ist,
dass der Mensch da ist, wird bei näherer Betrachtung recht
schwierig, soll uns aber zunächst nicht weiter beschäftigen.
Die Philosophie des menschlichen Daseins
beginnt also mit der Feststellung, dass sie über alles das
nachzudenken anstrebt, was allen Menschen, insofern sie da sind,
gemein ist bzw. von universeller Bestimmung ist – und wir
verwechseln das hier nicht mit universeller Bedeutung. Das ist etwas
anderes.
Wenn wir über das menschliche Dasein sprechen, fragen wir uns weiterhin, was allen Menschen gemein ist und gehen mit dieser Frage also über die Bestimmung des individuellen Daseins hinaus. Der Mensch ist seinem Wesen nach ein Mensch, dessen Dasein wie das aller Lebewesen - und der nicht belebten Materie, der Natur also - sich in einer Welt vollzieht, die selbst wiederum Teil eines Universums ist. Von diesem Universum wissen wir wenig, wenn nicht nichts, sehen wir einmal von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ab.
i Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (werkausgabe edition suhrkamp), Frankfurt a. M. 1980, Band I.2: Abhandlungen, S. 697 f.
ii Ontisch von griech. to on ‚das Seiende‘, das tatsächlich individuell Seiende (Sein) in Raum und Zeit
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