Traditionelle und pragmatische Erkenntnistheorie
Helmut Pape • Helmut Pape leitet in die Wissenschaftstheorie ein (Last Update: 27.03.2014)
Das Wissen, das wir zum Handeln benötigen, wird häufig
etwas verächtlich instrumentelles Wissen genannt. Der
Zusammenhang, den ich zwischen einem Zweck des Handelns und dem
Wissen hergestellt habe, kennzeichnet den darauf basierenden
Wissensbegriff als pragmatischen. Wir sahen soeben am Falle der
Erfahrung des Malers, wie schwer es ist, selbst seine Art von
Kenntnis ganz vom pragmatischen Aspekt zu trennen. Das ist aber in
der traditionellen Erkenntnistheorie immer wieder versucht worden.
Dieser traditionellen Konzeption wollen wir uns kurz zuwenden: Als
Wissen galt eben z.B. für Plato, aber auch noch für
Kant vor allem das, was notwendig einsehbar war und was gerade
in Absehung von den individuellen, empirischen Verhältnissen und
Bedingungen theoretisch erfaßt werden konnte.
Das Fragen nach dem, was Wissen ist, hat sich erheblich verändert
- und ist dabei sich weiter zu verändern. Schon ein ungenauer
Blick in die Geschichte der Philosophie zeigt uns, daß dabei
der Zweck des Wissens meistens nicht berücksichtigt wurde. Das
Modell des Wissens war eher dem göttlichen Wissen analog: Ewig,
unwandelbar und in sich bestimmt, ohne die Beziehung auf Zwecke zu
erfordern.
Was wir wissen und erkennen können und wie sicher unser
Wissen ist, sind Fragen, die sich Menschen im allgemeinen und
Philosophen im besonderen zu allen Zeiten gestellt haben. Manche -
z.B. Blumenberg in „Die Lesbarkeit der Welt“
- fragen auch, was es überhaupt war, was wir haben wissen
wollen. Oder was es ist, daß Wissen und Erkennen möglich
macht. Oder ob wir sicher sein und überzeugend begründen
können, daß etwas, was wir wahrnehmen, meinen, glauben
oder auch nur ahnen tatsächlich ein für alle Menschen
verbindliches Wissen ist.Die Erkenntnistheorie bildet den Kern
der theoretischen Philosophie, ebenso wie die Ethik zum Kern der
praktischen Philosophie gehört. Wenn Sie einen Blick in eines
der gängigen Lexika werfen, um zu erfahren, was
Erkenntnistheorie ist, so finden Sie z. B. im Brockhaus die folgende
Bestimmung:
„Erkenntnistheorie
(Gnoseologie), philosophische Disziplin, die sich mit
Voraussetzungen, Prinzipien und Grenzen des Erkennens beschäftigt.
Entscheidende Beiträge zur Entwicklung der Erkenntnistheorie zu
einer eigenständigen Disziplin lieferten R. Descartes und J.
Locke. Zur Grundlage philosophischen Nachdenkens wurde die
Erkenntnistheorie durch I. Kants Erkenntniskritik, für die auf
»Bedingungen der Möglichkeit« (natur-)
wissenschaftlichen Erkennens zielende Fragen und
erkenntnisbegrenzende Fragestellungen charakteristisch sind.“(c)
Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001
Wie wir in dieser Vorlesung sehen werden, ist die
Erkenntnistheorie seit Ausgang des Mittelalters - nicht erst seit
Kant wie der Brockhaus-Artikelschreiber meint -, auch die Theorie der
wissenschaftlichen Wissensgewinnung gewesen. Andererseits fehlt heute
in den Einträgen zur Wissenschaftstheorie der Hinweis darauf,
daß die philosophische Theorie der Methoden und Logik der
Wissensgewinnung in den Wissenschaften - der englische Terminus
hierfür ist viel besser, er lautet „philosophy of
science“ - vor allem eine spezielle Art von
Erkenntnistheorie ist, die so alt ist wie die Philosophie selbst.Die
sogenannte analytische Philosophie, die heute in der
Wissenschaftstheorie dominierend ist, ist besonders Stolz darauf, daß
sie ihre Konzeption der Erkenntnis weder durch die subjektive oder
vorbegriffliche Formen des Erkennens, noch durch die Spielarten des
praktischen Wissens, das uns zum Handeln befähigt, belasten
will. So engt z.B. Franz von Kutschera in dem Vorwort zu
seinem Buch „Grundfragen der Erkenntnistheorie“
das Themenfeld der Erkenntnstheorie auf logisch-begriffliche
Beziehungen ein:
„Erkenntnistheorie befaßt
sich nicht mit allen Formen des Erkennens, sondern nur mit
Erkenntnissen, deren Inhalt sich begrifflich hinreichend präzise
bestimmen läßt. Begriffliche Erkenntnis spielt eine
besondere Rolle, da dazu insbesondere auch wissenschaftliche
Erkenntnis gehört. Daneben gibt es aber auch andere kognitive
Leistungen, die nicht an begriffliche Bestimmung oder sprachlichen
Ausdruck gebunden sind. Sie bleiben üblicherweise außerhalb
des Horizonts der Erkenntnistheorie, und damit auch die wichtige
Frage nach Eigenart und Grenzen begrifflicher Erkenntnis. Das liegt
daran, daß wir begriffliche, insbesondere wissenschaftliche
Erkenntnis als höchste Form der Erkenntnis ansehen, und z.B.
anschauliches, intuitives oder gefühlsmäßiges
Erkennen als primitive Vorformen davon betrachten.“ (Ebenda, S.
XIII)
Doch auch Kutschera kann nicht wirklich bestreiten, daß
Erkennen empirisch-wissenschaftlichen Wissens und Theorie stets so
stark eingebettet und umgeben von jenen geistigen, sozialen und
biologischen Prozessen ist, durch die sich Menschen miteinander und
mit ihrer Umgebung austauschen, daß es angemessen zu sagen ist,
daß keine Erkenntnis ohne diese kontextuellen Einbettungen
möglich ist. Er erklärt nur die Berücksichtigung
dieser Einflußgrößen für philosophische Fragen
als irrelevant: Seiner Meinung nach gehören sie in die
Psychologie, Soziologie und Neurophysiologie der Erkenntnis.
Die Möglichkeit, daß eine pragmatische
Erkenntnistheorie durch das Primat der zweckvollen Praxis einen Weg
findet, um all diese Bedingungen über das alltägliche
Gelingen von Erkenntnis einzufangen, hat er nicht gesehen. Aber
vollzieht die pragmatische Erkenntnistheorie nicht eine
Trivialisierung? Läuft ihr Ansatz nicht auf die simple These
hinaus, das, um Wissenschaftler zu sein, wir zunächst einmal
Menschen sein müssen? Müssen wir nicht, wenn wir
Wissenschaft und Philosophie betreiben, in vielen Punkten von diesen
allgemein-menschlichen, vorrationalen und vorwissenschaftlichen
Einbettungen absehen? Ja, besteht die wichtigste Errungenschaft von
Wissenschaft und Philosophie, ihre Objektivität, nicht darin,
daß ihre Einsichten es uns ermöglichen, von den zufälligen
Bedingungen abzusehen, unter denen unsere individuellen, alltäglichen
Bemühungen, unsere Umwelt zu verstehen und angemessen mit ihr
umzugehen unvermeidlich stehen?
Zunächst einmal: Was trivialerweise richtig und gültig
ist, ist eben gerade nicht falsch, sondern für manche von uns
ein überflüssiger, redundanter Inhalt einer Mitteilung. Die
These, daß wir Menschen sein müssen, um Wissenschaftler
sein zu können, ist dann eine Einsicht in einen relevanten
Zusammenhang, wenn sich zeigt, daß es tatsächlich
Erkenntnistheorien gibt, die diesem trivialen Zusammenhang -
vielleicht stillschweigend - widersprechen oder übersehen.
Gleichzeitig unterstellt die obige Frage, daß es möglich
ist, eine völlig vom Menschen unabhängige Objektivität
in der Erfahrung erreichen zu können und dabei soll diese sich
noch als das einzig entscheidende Merkmal des einzig wahren Wissens
erweisen! Dies sind Voraussetzungen, die den Wissenschaften und der
menschlichen Erfahrung nicht nur viel, sondern zuviel abverlangen. Im
selben Maße unterschätzt diese Fragestellung dramatisch
den Beitrag, den die individuelle Erfahrung zur Erkenntnisleistung
macht und sogar machen muß - damit eine empirisch vorgehende
Wissenschaft überhaupt für unser Leben relevant sein kann.
Die Überschätzung objektiver, allgemeingültiger
Zusammenhänge und Unterschätzung der individuellen
Erfahrungszugänge ebenso wie des Beitrags nicht-begrifflicher
Funktionen zur Erkenntnisleistung ist Ausdruck eines Glaubens an die
Wissenschaft als rationale, theoretische Konstruktion. Dabei wird
übersehen, das auch Wissenschaft nur von einzelnen Menschen
gemacht wird, der individuellen Prägungen und Erfahrungen erst
den Zugang selbst zu den allgemeinen und objektiven Zusammenhängen
erschließen. Die Ergebnisse müssen nicht nur von
individuellen Erfahrungsmöglichkeiten ihren Ausgang nehmen,
sondern sie müssen in jedem Schritt und in ihrem Ergebnis von
anderen kognitiven Fähigkeiten gestützt und an diese
zurückgebunden werden können.
Wenn ich im Titel dieses Teils der Vorlesung vom Spüren,
Ahnen und Wahrnehmen sprach, so ging es darum diese -
erkenntnisnahen geistigen Leistungen mit in den Bereich des
erkenntnistheoretischen Fragens einzubeziehen. Eine Aufgabe dieser
Vorlesungen soll es sein, dieses einseitig rationale Bild zu
korrigieren und den Zusammenhang zwischen Erkennen und den Beitrag
der vorbewußten geistigen Fähigkeiten genauer zu
bestimmen. Sie sind es nämlich, die es uns erst ermöglichen,
die Welt als Umwelt für unser weiteres Erkennen im „Gewußt-wie“
unseres Handelns auch ohne die Vermittlung theoretisch-begrifflichen
Wissens zugänglich zu machen.
Die These einer pragmatischen Erkenntnistheorie lautet nun, daß
es ein Primat der Praxis des Wissens, des „gewußt-wie“
gibt, die zwar durch Theorie ergänzt und verbessert werden kann,
aber die von allen Wissenschaften vorausgesetzt werden muß.
Doch selbst dann, wenn das Ideal einer subjektlosen,
vollständig rational konstruierten wissenschaftlichen
Objektivität jemals erreicht werden sollte, bedarf es immer noch
der ausdrücklichen und nicht mehr nur stillschweigend
vollzogenen Ausformulierung dessen, was es eigentlich ist, was wir da
erkennen, wissen und erfahren haben, wenn wir Wissenschaft treiben.
Denn dies ist die Aufgabe von Philosophie, zu beschreiben und
explizit verständlich zu machen, was praktisch einfach und
selbstverständlich schien. Können wir nicht auch in diesem
Punkt unseren alltäglichen Einsichten vertrauen? Es ist es die
These des von mir in diesen Vorlesungen, daß wir dies letztlich
tun müssen. Aber es gibt einen Punkt, wo wir den
Alltagsmeinungen sehr vorsichtig, wenn nicht skeptisch begegnen
sollten. Eben in diesem Punkt des Interpretierens dessen, was wir
tun, wenn wir alltäglich Wissen und Erfahrung gewinnen, sollten
wir unseren alltäglichen Meinungen nicht unbedingt folgen. Wenn
wir im Alltag allgemein zu beschreiben versuchen, was Erkenntnis ist,
so neigen die meisten von uns häufig zu einem falschen Urteil
über den Verlauf von Erkenntnisprozessen. Also: nicht die
alltägliche Praxis selbst, sondern ihr Selbstverständnis
geht häufig in die Irre.
Eine dieser irreführenden Theorien über die Struktur
von Erkenntnisprozessen besagt z.B., daß jede gelungene
Erkenntnis ihren Gegenstand schlicht widerspiegelt. E. Cassirer
hat dieses naive Modell Widerspiegelungsmodell einmal folgendermaßen
beschrieben:
„Der naiven Auffassung
stellt sich das Erkennen als ein Prozeß dar, in dem wir uns
eine an sich vorhandene, geordnete und gegliederte Wirklichkeit
nachbildend zum Bewußtsein bringen. Die Tätigkeit, die der
Geist hierin entfaltet, bleibt auf einen Akt der Wiederholung
beschränkt: nur darum handelt es sich, einen Inhalt, der uns in
fertiger Fügung gegenübersteht, in seinen einzelnen Zügen
nachzuzeichnen und uns zu Eigen zu machen. Zwischen dem „Sein“
des Gegenstandes und der Art, in der er sich in der Erkenntnis
widerspiegelt, besteht auf dieser Stufe der Betrachtung keine
Spannung und kein Gegensatz: nicht der Beschaffenheit sondern
lediglich dem Grade nach lassen sich beide Momente
auseinanderhalten.“ (Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in
der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Band I, S. 1)
Die von Cassirer beschriebene naive Einstellung zur Erkenntnis
sieht nur die Widerspiegelung des Gegenstands im Wissen und ist
typisch für viele alltägliche Einstellungen zum
Erkenntnisprozeß. Doch ist diese Sichtweise keineswegs nur ein
naives Vorurteil. Sie wirkt bis tief in die Kultur, Politik und Kunst
hinein und hat in der marxistisch-materialistischen
Widerspiegelungstheorie der Erkenntnis seinen philosophischen
Ausdruck gefunden.Es ist ja auch nicht alles nur falsch an der
Widerspiegelungsmetapher. Die Aufgabe und das Ziel unseres Wissens
ist es, die Dinge „so wie sie wirklich sind“ und vor
allem insofern sie für unsere Zwecke und Interessen wichtig
sind, direkt zu erfassen. Das ist sozusagen die Erfolgssichtweise des
Wissens: Wenn ich etwas über einen Gegenstand weiß, dann
verhält sich dieser Gegenstand auch genauso wie ich meine, daß
er beschaffen ist. Wir vertreten im Verständnis von dem, was
Wissen für uns ist, aber auch die entgegengesetzte These,
nämlich die Überzeugung, daß doch „alles nur
subjektiv“ ist.
Wir sehen: Die Gleichsetzung des Wissens mit der
Widerspiegelung des Gegenstands des Erkennens gibt zum einen dem
Zweck des Wissens, nämlich wahrheitsgemäße und damit
verläßliche Informationen zu liefern, die unser Handeln
orientieren, als eine Beschreibung des Erkenntnisvorgangs selbst aus.
Wir tun so als wenn die Gegenstände genau so sind, daß sie
unseren Erkenntniszweck bereits vorwegnehmen und dem immer schon
entsprochen haben.
Die genau entgegengesetzte Position zur Widerspiegelungstheorie
vertritt Immanuel Kant. In der Vorrede zur 2.Auflage der
Kritik der reinen Vernunft schreibt er:
„Bisher nahm man an, alle
unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten;
aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe
auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen
unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob
wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß
wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem
Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten
Möglichkeit einer Erkenntnis derselben apriori zusammenstimmt,
die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas
festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit dem Gedanken des
Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der
Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze
Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht
besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und
dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man
nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf
ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der
Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe
ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne;
richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der
Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir
diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.“ (KdrV, B
XVI/XVII)
Ziel der Kantischen Erkenntnistheorie ist es, eine Antwort auf
die Frage zu finden, wie Erkenntnis apriori möglich ist. „
Apriori“ heißt: Ein Wissen und Erkennen, das unabhängig
von der sinnlichen Erfahrung ist. Frage nach den Bedingungen, unter
den für sinnengestützte Wesen wie wir Menschen eine
Beschreibung der Bedingungen von Erkenntnis möglich ist,
beschreibt den Wahrnehmungsapparat als „apriorische“
Voraussetzung von Erkenntnis.Was heißt es, daß sich
die Gegenstände - als Objekte der Sinne - nach unseren
Wahrnehmungsvermögen richten?
Um einige naheliegende Mißverständnisse gleich
auszuschließen: Kant will nicht etwa sagen, daß wir die
Gegenstände durch unsere Wahrnehmung erschaffen. Es geht ihm
nicht um die These, daß der Gegenstand oder gar der
Zusammenhang des Wirklichen erst dadurch entsteht, daß wir ihn
wahrnehmen. Wenn z.B. eine ferne Sonne von der Erde aus nur so erfaßt
werden kann, daß man ein Radioteleskop auf sie richtet, so
bedeutet das nicht, das sie dadurch zu existieren beginnt, daß
ein Radioteleskop auf sie gerichtet wird. Sie beginnt dann vielmehr
für uns zu existieren.Auch wäre es irreführend,
wenn man sich die erkenntnistheoretische Rolle der Sinne nach dem
Modell einer Brille mit gefärbten Gläsern denken würde
wie dies z.B. der Zeitgenosse Kants Kleist getan hat. Kleist
meinte, daß die Verfassung unserer Sinne eine besondere Art von
Eigenschaft über alle Dinge legt. Ebenso würden alle Dinge
rosa aussehen, wenn z.B. Rosa die Farbe der Gläser der Brille
ist, die ich trage.
Doch wenn auch das Format unserer Sinne die Wahrnehmung
strukturiert, so können sie doch nicht bestimmte Eigenschaften
der Dinge vorschreiben: Sonst wären unsere Sinne kein Zugang,
sondern ein Hindernis für das Erkennen. Was Kants Ansatz
vielmehr zeigt, ist, daß die Sinne formale Bedingungen und
Filter für das Erkennen der Welt sind: Sie geben den Objekten
eine Form, Ordnung und Struktur in ihren Beziehungen zu uns und
zueinander vor. Dafür aber ist es gleichgültig, ob wir
statt mit Augen, die auf Sonnenlicht reagieren, z.B. auf irgendeine
andere Frequenz ständig abgestrahlter Schwingungen der
Gegenstände reagieren würden. Wenn wir jedoch z.B. mittels
Radar oder Sonarstrahlen etwas „erkennen“ könnten,
so müßten wir diese Strahlen ständig selbst
aussenden, um die Dinge unser Umgebung zu erfassen. Es mag sein, daß
im Laufe der Evolution sich die Sinne als Filter, Ordnungsschemata
und Bedingungen des Erfassens aufgrund des Einflusses der Gegenstände
entwickelt haben, die wir jetzt vorfinden. Doch das können wir
nicht wissen. Wenn wir jetzt allgemein (apriori) etwas über das
Erkenntnisvermögen sagen wollen, so verstehen wir sie als
filterndende und ordnende Weisen, wie wir zu „Anschauungen“
von Gegenständen gelangen können, die für uns Menschen
wichtig sind, weil sie unsere Umgebung ausmachen. Dies eben heißt
Wahrnehmungen machen und verstehen. D.h. sie sind formende,
strukturelle Bedingungen dafür, was für uns zum Gegenstand
werden kann. Kant beginnt in der KdrV deshalb auch mit einer
Untersuchung der „Formen der Anschauung“: Diese sind für
ihn Raum und Zeit, die eine allgemeine Ordnung aller Objekte der
Sinne bereitstellen.
Ich will in dieser Vorlesung nicht näher auf Kants
transzendental-philosophische Erkenntniskritik eingehen. Doch steht
das Thema der nächsten Vorlesung, nämlich die Indexikalität
des Wissens, dem Kantischen Denken nahe: Denn in gewißer Weise
tritt in der pragmatischen Erkenntnistheorie an die Stelle der
Ordnung der Dinge in Raum und Zeit ihre indexikalische Darstellung
und deren Vermittlung. Die indexikalische Sprache ist die Sprache des
menschlichen Wissens, das von Personen ausgeht und auf das Bezug
nimmt, was Personen voneinander erfahren, wahrnehmen und wissen.
Indexikalisch formuliertes Wissen bezieht das „ich, er, sie,
du, wir, ihr“ auf das „hier, dort, woanders als“
und auf das „jetzt, damals, später, früher als“.
So werden die Formen der Anschauung mit denen ein einsames
Erkenntnissubjekt sich selbst Wahrnehmungsgehalte klar macht, ersetzt
durch eine Sprache, die Wahrnehmungswissen vermittelt, und auch
Personen zuschreibt.
Abschließend will ich zu Ihrer Orientierung über
den weiteren Verlauf dieser Vorlesungsreihe kurz in den Grundzügen
beschreiben. Die ersten vier Vorlesungen stehen unter dem Thema
„Spüren, Wahrnehmen und Wissen: Der erkenntnistheoretische
Alltag” und werden einen pragmatischen Wissensbegriff
einführen, für den der gute Informant und das kommunikative
Gegenüber zentrale Kategorien sind. Dabei wird sich zeigen, daß
die erkenntnistheoretische Leistung der zuschreibenden,
indexikalischen Sprache, die dazu dient, anderen Menschen Meinungen
zuzuschreiben, eine erkenntnistragende und manchmal auch
-entscheidende Rolle in Alltag und Wissenschaft spielt. Für den
II. Teil habe ich mir eine Themenstellung vorgenommen, die zunächst
als rein geschichtlich erscheinen mag, die aber den im I. Teil
entwickelten pragmatischen Wissensbegriff anknüpft. Der II. Teil
wird vier Vorlesungen umfassen und steht unter dem Titel „Wie
die Entstehung der Naturwissenschaften die Beziehung zwischen
Erkennen und Erfahrung verändert“. Sie wird sich unter
anderem mit Gallileis, Keplers und Descartes Verständnis der
Aufgabe von Wissenschaft beschäftigen und wie diese Auffassung
einen neuen Umgang mit alltäglicher und experimenteller
Erfahrung begründete. Das Ziel ist es, den Bogen zwischen diesen
ersten Konzeptionen der modernen Naturwissenschaft zu heutigen
nach-newtonischen Physik aufzuzeigen.
Der dritte Teil bildet den wissenchaftstheoretischen
Schwerpunkt dieser Vorlesungsreihe. Unter dem Thema „Wissenschaft
und Verstehen: Was zeichnet eine wissenschaftliche Erklärung
aus?“ werden wir in fünf Vorlesungen den Erklärungsbegriff
des wissenschaftlichen Verstehens als Mittelpunkt der modernen
Wissenschaftstheorie beschreiben und seine Beziehung zu alltäglicher
Erfahrung und alltäglichen Verstehensbegriffen herausarbeiten.
Dieses Thema wird es erlauben, daß wir wichtige Positionen der
modernen Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts - mit Peirce
und Carnap angefangen, über Hempel, Nagel,
Salmon bis Gordon-Brittan, Bas van Fraassen
- anhand des von ihnen vertretenen Erklärungsbegriffs
kennenlernen.Im IV. Teil “Alltägliche Fähigkeiten
und die Spur des Menschen in den Wissenschaften” werden wir
unsere Reise durch die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie damit
beenden, daß wir auf anfängliche Fragen, Einsichten und
Thesen anhand des Begriffs der Spur und des Index zurückkommen.
Wir werden uns mit den Grenzen der Wissenschaft und den Grenzen des
Verstehens beschäftigen und die Konflikte und komplimentären
Beziehungen zwischen Alltag und Wissenschaft betrachten. Die
abschließend vorgeschlagene situative Semantik der Indices und
Spuren erweist sich als das Bindeglied, das die alltäglichen
Erkenntnisformen sowohl mit den exakten Naturwissenschaften wie mit
den Geisteswissenschaften verbindet.Dies ist der Weg, den ich Sie
führen möchte. Auch ich weiß noch nicht so genau, wie
uns die Reise über die geplanten Stationen zu dem beschriebenen
Ziel führen wird. Denn ich muß gestehen: Diese Vorlesungen
sind immer noch im Werden, auch wenn schon etliches geschrieben ist.
Es kann durchaus sein, daß die Mühsal des Wegs an einigen
Stellen weitaus mehr Zeit erfordert als ich eingeplant habe. Und ich
bin gern bereit, mich durch Ihre Nachfragen zu näherer
Untersuchung einiger Details anregen zu lassen. Ja, es kann auch
sein, daß die Reize und Schönheiten der philosophischen
Landschaften, durch die wir ziehen werden, uns vom geplanten Weg
unserer Route auf Seitenpfade ablenken und gelegentlich fortführen
werden. Lassen Sie sich überraschen.
Ihr Kommentar
Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.