Totalität und Unendlichkeit
Michael Seibel • Kurzeinblick in Emmanuel Lévinas, »Totalität und Unendlichkeit« (Last Update: 24.02.2014)
Download: Auszug aus Emmanuel Lévinas 'Totalität und Unendlichkeit'
Einstieg ins Thema
war der philosophisch recht traditionelle Text von Emmanuel
Lévinas, »Totalität und Unendlichkeit, Versuch
über die Exteriorität«, Freiburg/München 1993
2002 (Original: »Totalité et Infini: essai sur
l'extériorité«, 1961)
Hier die Kurzzusammenfassung von „Totalité et infini“ (in folgendem kurz TU) ohne den Anspruch, den Text zu kommentieren.
Selbstbewußtsein als Freiheitsbewußtsein („Möglichkeit einer Bedeutung ohne Kontext“ (TU, S.23)) ist ohne Begegnung mit dem Anderen nicht möglich.
Das ist wohl die zentrale These von „Totalität und Unendlichkeit“.
Der Inbegriff dessen, worauf Wissen abzielt, ist der Begriff der Totalität. Totalität steht für eine geschlossene Welt verstandener Notwendigkeiten, in der kein Platz für ein freies Selbst zu finden ist.
„Menschsein heißt zu wissen, (…) daß die Freiheit in Gefahr ist.“ (TU, S.38)
Allein in der Begegnung mit dem Anderen lasst sich ein Jenseits dessen entdecken, ein Leben, in dem das Subjekt als Freiheit möglich ist.
Lévinas Pointe: Freiheit existiert nur als Verantwortung für den Anderen.
Der Abschnitt „Das Selbe und das Andere“ liefert zunächst die Grundbegriffe dieser Argumentation: Totalität, Unendlichkeit, das Selbe, der Andere, das Begehren.
Der Abschnitt „Innerlichkeit und Ökonomie“
Der Mensch lebt in der Möglichkeit, Distanz vom Sinnlichen zu entwickelt. Diese Distanz bildet sich sich über drei Stufen:
1)
als „paradiesischer Genuss,
ohne Zeit und Sorge“ ,
2)
als in Form von Arbeit aufgeschobener
Genuss und Besitz,
3)
als Vorstellung, die
Lévinas als die Schwelle für den Übergang vom Selben
zum Anderen ansieht.
Wäre Distanz zum Sinnlichen unmöglich, dann wäre das Subjekt nur Reflex dessen, was Lévinas Totalität nennt. Die Möglichkeit, sich zu distanzieren, die Totalität als überschreitbar zu erleben, ist also als unerkannte Bedingung von Subjektivität in der Existenz immer schon anwesend.
Die Rolle des Anderen, das immer schon da ist, ohne dadurch bereits seinem Wesen nach entdeckt zu sein, spielt in „Totalité et infini“ das Weibliche.
„Der Andere, dessen Anwesenheit auf diskrete Weise eine Abwesenheit ist, von der aus sich der gastfreundliche Empfang schlechthin, der das Feld der Intimität beschreibt, vollzieht, ist die Frau.“ (TU, S.222)
Im Abschnitt „Phänomen und Sein“ beschreibt Lévinas den Übergang von der Immanenz das Subjekt zum Sein des Anderen. Im Anblick des Antlitzes wird sozusagen eine Lücke im Sein sichtbar:
„Das Phänomen ist das Seiende das erscheint, aber abwesend bleibt. (...) Realität, die noch unendlich weit von ihrem Sein entfernt ist. Man hat im Werk jemandes Absicht erraten, aber man hat über ihn in seiner Abwesenheit geurteilt.“ (TU, S. 263)
Das
Subjekt erfährt seine Trennung vom Wirklichen als
endlosen Verweisungszusammenhang, sozusagen als
Zeichenkette (Den Begriff
benutzt Lévinas noch nicht, so werden es später die
Strukturalisten nennen.)
„Die
Phänomenalität, um die es geht, bedeutet (...) eine
Seinsweise, in der nichts endgültig, in der alles Zeichen ist,
Gegenwart, die aus ihrer Gegenwart abwesend und in diesem Sinne Traum
ist.“ (TU, S. 258)
Das Antlitz und die Exteriorität
Wenn die Erfahrung des Anderen möglich ist, wie lässt sich dann verstehen, dass der Andere nicht sofort wieder vereinnahmt wird?
Der Abschnitt über „Das Antlitz und die Exteriorität“ wird von zwei Themen beherrscht: der konkreten Bestimmung der Erfahrung des Anderen („Antlitz und Ethik“) und dem Problem des Pluralismus („Die ethische Beziehung und die Zeit“).
„Ein Seiendes, das zugleich unabhängig vom Anderen ist und sich ihm dennoch darbietet - ist ein zeitliches Seiendes: Der unvermeidlichen Gewalt des Todes setzt es seine Zeit entgegen; die Zeit ist die eigentliche Vertagung. Nicht die endliche Freiheit macht den Gedanken der Zeit verständlich, sondern die Zeit gibt dem Gedanken der endlichen Freiheit einen Sinn. Die Zeit ist nichts anderes als die Tatsache, daß die ganze Existenz des sterblichen Seienden - das der Gewalt zugänglich ist - nicht das Sein zum Tode ist, sondern das ‚Noch-nicht‘; (...) ein Rückzug vom Tod inmitten seines unerbittlichen Kommens.“ (TU, S.325)
Wenn die Gewalt die Wahrheit des Wirklichen ist, wie kann dann die Innerlichkeit, die sich gegen die Gewalt wehrt, Wahrheit erlangen?
…
„wenn
seine Furcht vor dem Tode sich umkehrt in die Furcht, einen Mord zu
begehen.“ (TU, S. 359).
„Der Vollzug des Ich als Ich und die Moralität machen einen und denselben Vorgang im Sein aus: Die Moralität entsteht nicht in der Gleichheit; sie entsteht vielmehr darin, (...) daß man den Armen, dem Fremden, der Witwe und dem Waisen dient. Nur so, nämlich durch die Moral, ereignen sich im Universum Ich und die Anderen.“ (TU, S.361)
Der Abschnitt „Jenseits des Antlitzes“
Nur die Moral rechtfertigt das Subjekt. Aber revidiert der Tod nicht auch diese Rechtfertigung? Die formale Definition des Todes in der Philosophie von Lévinas ist die Reduktion des Seienden auf die reine Sinnlichkeit. Der Tod ist keine Möglichkeit, sondern eine Unmöglichkeit, entgegen der Auffassung Heideggers. „Das Ende des Todes nähert sich nicht wie ein Ende des Seins, sondern wie ein Unbekannter, der als solcher das Können aufhebt.“ (TU S.415)
Dass der Tod nicht das Ende des Subjekts ist, sei nun, so Lévinas in der sinnlichen Liebe erfahrbar.
„ Die Weise des Zärtlichen besteht in einer extremen Zerbrechlichkeit‚ in einer Verwundbarkeit. Das Zärtliche manifestiert sich an der Grenze zwischen dem Sein und dem Nichtsein‚ wie eine milde Wärme; in ihr löst sich das Sein in Ausstrahlung auf, wie das „flüchtige Inkarnat“ der Nymphen aus dem „Après midi d’un faune“, das „gaukelt in der Luft, die von dichtem Schlaf gesättigt ist, ...“‚ das seine Individualität auflöst und sich vom Gewicht des eigenen Seins befreit; schon ist es Erlöschen und Ohnmacht, seinem Wesen nach Flucht inmitten seiner Erscheinung. Und in dieser Flucht ist der Andere anders, ist er fremd der Welt, die für ihn zu grob und zu verletzend ist.
Und dennoch hält sich diese extreme Zerbrechlichkeit auch an der Grenze zu einer Existenz, die ‚keine Umstände‘, ‚keine Umschweife‘ kennt, die von einer ‚nicht-bedeutenden‘ und rohen Dichte, von einer exorbitanten Ultramaterialität ist.“ (TU, S.373f.)
Die Liebe bedeutet für das Ich, „von sich aus auf sich zu verzichten, darauf verzichten ohne Gewalt “.
„Aber bringt die Gewalt des Todes die Subjektivität nicht zum Schweigen? Es sei denn, die Subjektivität, empört über die Gewalt der Vernunft, die die Apologie zum Schweigen bringt, könnte nicht nur bereit sein, zu schweigen - sondern könnte von sich aus auf sich verzichten, ohne Gewalt verzichten, von sich aus der Apologie ein Ende setzen; dies wäre kein Selbstmord, keine Resignation, sondern die Liebe.“ (TU, S. 370)
Wenn
in der Liebe das Ich die Herrschaft über das Sinnliche aufgibt,
auf sich Verzicht leistet und so an den Tod heranreicht, so geschieht
durch sie die sich selbst begründende Erneuerung des Ich.
Ein Kind wird gezeugt.
Soweit eine erste, nicht kommentierende Zusammenfassung.
Lévinas »Totalität und Unendlichkeit« ist vielleicht einer der letzten großen philosophischen Monologe zur Ethik. Er macht mir zumindest auch heute noch Spaß beim Lesen. Ob er zeitgemäß ist? Ich weiß es nicht. Man hört überall die Zeit hindurch, in der er geschrieben worden ist.
Es ist aber die Generation eines Sartre, eines Merleau Ponty und eines Lévinas, die zuletzt die Frage der Ethik vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 2ten Weltkriegs auf sehr unterschiedliche Weise radikalisiert haben, die Zeugengeneration, von denen heute nur noch wenige leben.
Lévinas war einer der in Fragen der Ethik radikalsten Denker. Für ihn ist die Ethik geradezu prima philosophia. Ohne sich ein klares Bild von ihr gemacht zu haben, braucht man nach seiner Ansicht andere Grundbereiche der Philosophie gar nicht erst betreten.
In diesem Punkt scheint er mir weiter zu gehen als die meisten anderen seiner Generation. Das macht ihn zum door opener der Diskussion über Ethik.
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