Der Schwache
Michael Seibel • Anläßlich der Lektüre Nietzsches (Last Update: 24.02.2014)
Was
heißt im Gegenteil schwach?
Umgekehrt
ist die Schwäche dreierlei: Sie ist 1) unmittelbares
Gehemmtsein
durch eine äußere Kraft, nämlich durch den stärkeren
anderen. Sie unterliegt einem erzwungenen Aufschub. Mit der Folge:
„Alle
Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich
nach innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des
Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was
man später seine »Seele« nennt.“ -
Affektkontrolle
kommt via Vergewaltigung von außen. (Und was ist mit der
Affektkontrolle, die zu Zwecken der Verführung erforderlich
ist?)
Sie
ist jedoch 2) nie völliges Fehlen von Kraft, sondern lediglich
die der Stärke unterlegene Kraft.
Kraft, die durch den anderen begrenzt, aber dadurch zugleich bestimmt
wird, die damit beginnt, etwas über sich selbst zu wissen und
die Strategien und Koalitionen entwickeln kann.
„Die
menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den
Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist“.
Da
auch die Schwäche Kraft ist, hört sie 3) nie auf, auf die
gleiche Lust abzuzielen wie jede Stärke. Sie rechnet in gleicher
Münze.
Menschliches
Leben vollzieht sich als keineswegs durchgängig bewusste
leibliche Dynamik von Wille/Trieb, im Erleben von Anspannung an
Widerständen und Lust/Wollust in deren Überschreitung. Die
Gedächtnisfunktion wird dabei analog der Verdauung
beschrieben als ein Fertigwerden ohne Rest. Sofern es zu sprachlicher
Repräsentation überhaupt kommt, ist diese gänzlich
Positivität.
Ist
in diesem Sinne Leben ein Wert zu nennen? Ist es am Ende sogar der
höchste Wert einer sich abzeichnenden Ethik? Nein, durchaus
nicht. So wie das Lamm Wert für den Löwen hat, aber nicht
Wert an sich, ebenso wenig hat der Löwe Wert an sich oder das
menschliche Leben. Nietzsches Wille zur Macht denkt geradezu ein
Wertuniversum ohne höchsten Wert. Denn ohne selbst Wert zu
haben, gibt für Nietzsche das Leben das Differenzial
ab, das zu entscheiden erlaubt, ob etwas für es Wert hat und
welche Qualität der Wert hat, einen stärkenden oder einen
schwächenden.
Wenn
es „»die
Guten« selber gewesen (sind), das heisst die Vornehmen,
Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche
sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges
empfanden“, so
handelt es sich dabei um eine Selbstbejahung, die nur genau so weit
reicht, wie kein Stärkerer auftaucht. Sie beansprucht nicht,
Letztwert zu sein, sondern nur Leitwert, sie affirmiert auch die
Gefahr, selbst überwältigt zu werden.
Es
ist klar, dass Nietzsche damit den Zirkel der Letztbegründung
vermeidet, in dem sich jeder Wert auf seinen Grund hin befragen
lassen muss oder sich in die Behauptung eines letztlich nicht
empirisch durchsetzbaren Absoluten versteigt.
Andererseits:
Kommt es bei Nietzsche überhaupt zu einer Ethik? Jene Mächtigen
und Hochgesinnten, denen die ursprüngliche Bedeutung des Wortes
gut
zu verdanken ist, benötigen keine, denn sie müssen sich
niemandem gegenüber rechtfertigen, entscheiden aus dem Bauch
heraus, und was nicht passt, ist bald vergessen.
Priesterliche
- und Sklavenmoral
Wird
es für Nietzsches Genealogie der Moral da eigentlich zum
Problem, dass der Typus des Starken in Reinkultur kaum vorkommt?
Es macht
Bewußtsein Feige aus uns allen;
Der angebornen
Farbe der Entschließung
Wird des
Gedankens Blässe angekränkelt;
Wenn
man sich die Weltarena als Begegnungsstätte von Starken denkt,
die miteinander ihre Kräfte messen, dürfte jeder empirische
Mensch im Laufe der Zeit an Grenzen seiner Stärke gestoßen
sein. Der ungetrübt platt sich selbst bejahende Starke dürfte
in kürzester Zeit zur raren Spezies werden. Reine Selbstbejahung
als pures Lebensgefühl käme bald nirgends mehr vor außer
als Fremdzuschreibung aus Sicht des situativ Unterlegenen, sofern
sich nach wie vor Stärken und Schwächen begegnen, wo sich
Menschen begegnen. Von daher bekäme der „Wille zur Macht“
einen Akzent des Verfehlten, der bei Nietzsche so nicht in den
Vordergrund gestellt wird.
Der
Typ des Starken würde als Lebensvorlage empirischer Menschen nur
den Versuch der Selbstbehauptung von etwas längst
verlorenem motivieren. Wäre Schwäche schlechthin
traumatisch, so wäre das Ja zum Leben, um das es Nietzsche geht,
von Anfang an durchkreuzt.
Nun
ist bei Nietzsche Stärke so gedacht, dass sich der Sieger auch
quält. Leiden gehört zur Stärke dazu. Oder wie sagt
Nietzsche: Leiden ist kein Argument gegen das Leben. Eine
Gesellschaft von Ameisen wäre eine Gesellschaft voll lauter
Helden. Von Schwäche könnte keine Rede sein. Jede gibt, was
sie kann mit ganzer Kraft bis zum letzten Ameisenatemzug. Herdenmoral
meint etwas anderes.
Worauf
Nietzsche jedoch hinweist ist ein zwischen Menschen geschichtlich
kontingenter Umschlag von Leiden in Schwäche. Ohne dass
Nietzsche dafür einen Grund angeben könnte (und warum
sollte er einen Grund angeben müssen, solange die Beobachtung
selbst zutrifft) wird Schwäche zum Trauma. (Heutige klinische
Psychologen können den Punkt nach wie vor nicht angeben.)
Irgendwann hört der Aktive sozusagen auf, seine Schwäche
sportlich zu nehmen und entwickelt Ressentiments.
Nun
gut, warum sollte er sich nicht wieder erholen und zu seiner alten
Stärke zurückkehren wie bisher immer? Aber kann sie sich
regelmäßig in den alten Stand erholen, ohne dass sich die
Stärke des anderen in die eigene Kraft als deren Grenze
eingeschrieben hat?
Ab
dann würde der empirische Mensch des anderen bedürfen, um
sich zu etwas zu stilisieren, was er an sich selbst längst nicht
mehr ist. Nietzsches Typ des Starken wäre sofort verstrickt in
einen endlosen Kampf um Geltung. Sein Jenseits von Verantwortung wäre
darin reine Attitüde. Als das genau erscheint er mir in der
Verwebung von Lebensgefühl und sozialem Rang, die mir sonst
unplausiblen wäre.
Von
daher scheint mir der Abstand von Typus des adligen Kriegers zum
priesterlichen Herrscher nicht mehr all zu groß. Und so ist es
bei Nietzsche wohl auch gemeint.
Was
für ein affektives Korrelat der Stärke ist das, was
Nietzsche Lust oder Wollust nennt? Hier die Arten der Lust, von denen
Nietzsche spricht: „Lust
in allem Zerstören“,
„Wollust
(…), der Genuß in der Vergewaltigung“,
Genuß im Leidenmachen, „Lust
an der Grausamkeit“,
„Lust
an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung“.
Sie alle entbehren nicht des negativistischen Vorsatzes, einen
Schaden loswerden zu wollen, der längst eingetreten ist.
Damit
wären wir bei dem für Nietzsche so wichtigen Begriff der
Rache.
Nietzsche betont das Priesterliche, sozusagen Fesseln sprengende
Moment der Rache, damit aber auch ihre Positivität, ihren Lust-
und Festcharakter.
So
geht Nietzsche fließend zu dem über, was er priesterliche
Erfindung des Nein zum Leben nennt.
„Diese
heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit,
diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden
Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen
Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese
unheimliche und entsetzlich-lustvolle Arbeit einer mit sich selbst
willig-zwiespältigen Seele, welche sich leiden macht, aus Lust
am Leiden-machen, dieses ganze aktivische »schlechte Gewissen«
hat zuletzt – man errät es schon – als der
eigentliche Mutterschoß idealer und imaginativer Ereignisse
auch eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und
Bejahung ans Licht gebracht und vielleicht überhaupt erst die
Schönheit...“
weiter ...
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