Platons optimistische Behauptung, dass man aus jedem Schicksal etwas machen kann
Michael Seibel • und gleich dagegen: Seid vernünftig! - Freiheit von Leiden als Stoische Autarkie (Last Update: 13.03.2019)
Platon erzählt im zehnten Buch der Politeia folgende mythologische Geschichte, wir würden heute sagen, folgendes Märchen: Es war einmal eine Zeit, da mussten alle Seelen, bevor sie als Menschen auf die Welt kamen, der Schicksalsgöttin Lachesis einen Besuch abstatten. Sie bekamen dabei folgendes mitgeteilt: Das Leben, in das sie jetzt gleich entlassen würden, sei eine gefährliche und grausame Angelegenheit, es gebe darin eine Menge äußerst unterschiedlicher Schicksale. Manche Menschen seien reich und dauerhaft mächtig, andere bitter arm. Manche seien zwar anfangs bestens situiert, würden aber im späteren Leben tief abstürzen. Manche seien bemerkenswert schön und stark und bis ins hohe Alter gesund, andere kämen von vorn herein schwerbehindert auf die Welt. Manchen falle das Lernen leicht, andere hätten die größte Mühe, auch nur die einfachsten Zusammenhänge zu verstehen. Auch tierische Lebensweisen hätten sich die Seelen als Schicksal aussuchen dürfen, wenn sie denn gewollt hätten. Warum nicht leben wie ein Hund? Die Göttin notierte also jedes mögliche Schicksal auf einem kleinen Zettel und verstreute all die Zettel über den Fußboden. Danach forderte sie die erste Seele auf, sich alle Zettel einzeln durchzulesen und sich dann einen Zettel auszusuchen, dessen Inhalt ihr ganzes weiteres Leben bestimmen würde.
Weil jedes Schicksal einmalig ist, gab es auch jeden Zettel nur einmal. Wenn eine Seele ein bestimmtes Schicksal für sich ausgesucht hatte, konnte keine zweite Seele das gleiche Schicksal haben. Der Platz im Leben war besetzt. Das war insofern kein Problem, als die Göttin von vorn herein wesentlich mehr Zettel ausgefüllt hatte als Seelen anwesend waren. So war alles mögliche dabei von der Trumpf-Karte des Tyrannen bis zur Verlierer-Karte des verbannten Bettlers.
Es liegt nahe zu vermuten, dass die Wahlmöglichkeiten mit der Zeit schlechter geworden sein dürften, da diejenigen, die zuerst wählen durften, sich die besten Karten herausfischten. Die Schicksale der Reichen und Schönen sind nach einiger Zeit weg und auf dem Boden liegt nur der weniger attraktive Rest.
Die Pointe des Märchens ist jetzt allerdings die folgende: Woher wissen wir eigentlich, was eine gute und was eine schlechte Wahl ist? Das Schicksal wäre nicht Schicksal, wenn es aus den Menschen nicht jeweils etwas bestimmtes machen würde. Was also macht das Tyrannen-Schicksal aus dem Tyrannen? Was macht die Schönheit aus dem Schönling, der Reichtum aus dem Reichen und die Intelligenz aus dem Hochbegabten? Der Tyrann läuft aus Platons Sicht Gefahr, den allerhöchsten Preis zu zahlen. Er zieht sich unweigerlich durch die Übel, die er verübt, selbst die größten Übel zu und frisst, wie Platon im Mythos sagt, notwendigerweise seine eigenen Kinder. Die Rolle des Tyrannen zu wählen ist demnach in jeder Hinsicht schlecht überlegt und folgt nur einer gierigen, aber naiven Ehrsucht. Vielleicht hat der vom Schicksal schlechter Gestellte je nach dem, was er daraus macht, am Ende sogar Glücksmöglichkeiten, die eine vom Schicksal begünstigte Seele nie hätte. Aus seinem Schicksal kann prinzipiell jeder etwas machen, der die wahren Glücksbringer, die persönlichen Tugenden entwickelt. Weisheit (sophia), Tapferkeit (andreia), Besonnenheit (sophrosyne) und Gerechtigkeit (dikaiosyne), das sind die Kardinaltugenden. Jeder, ob Herr oder Knecht, ist frei, daran zu arbeiten. Man kann sie entwickeln oder es lassen. Das ist die klassisch griechische Version von individueller Freiheit mitten im unveränderlichen Schicksal und mitten in der nie endenden Arbeit daran, herauszufinden, worum es im Leben eigentlich geht.
Ich kann mit der Lachesis-Geschichte heute durchaus noch etwas anfangen. Nicht alles, aber einiges. Mein erster Streichkandidat ist natürlich die Figur der Göttin. Und damit hört das ganze Szenario, das die Geschichte erzählt auf, eine göttliche Ordnung zu sein. Aber ja, ich denke sehr oft, welcher unerhörte Zufall es ist, zu welcher Zeit und unter welchen Verhältnissen ich auf die Welt gekommen bin und wie anders mein Leben sonst aussehen würde, fern ab von jeder Freiheit und Bestimmbarkeit durch mich selbst. Daran ist nichts Göttliches, allerdings etwas Verblüffendes. Wie sehr unterschied sich das Leben meiner Eltern, als sie jung waren und den zweiten Weltkrieg zu durchleben hatten, von meiner Jugend. Dabei liegt nur eine einzige Generation zwischen ihnen und mir. Ich habe den Krieg selbst nie kennengelernt. Natürlich waren auch Sie frei, aus ihrem Leben etwas zu machen. Aber wir waren frei unter ganz verschiedenen Voraussetzungen. Warum sollte man das nicht Schicksal nennen?
Aber schicksalhaft und unveränderbar geht heute zumindest in unserem Kulturkreis nicht mehr zusammen. Auf der einen Seite verändern die modernen Wissenschaften erfolgreich die Lebensverhältnisse und sind offenbar dabei, dem Meer des Schicksals Land abzugewinnen. Dadurch erscheint die Frage, wer am Schicksal schuld ist, wer es verhängt hat, heute in einem völlig anderen Licht als in der Antike. Sobald sich heute überhaupt jemand benennen lässt, der ein Schicksal verhängt haben könnte, ist es schon keins mehr. Heute ist etwas, das jemand verhängen kann, immer auch etwas, das jemand ändern kann, also alles andere als ein Schicksal. Das ist im Grunde schon der ganze moderne Einwand gegen jeden Gottesgedanken.
Aber da war noch etwas. Was ist mit der vorgeburtlichen naiven Wahl, von der die Lachesis-Geschichte erzählt, wir würden heute sagen, mit all den Klischees über das Glück? Ohne groß nachzudenken sind sich nicht erst seit heute die meisten einig, dass schön und reich zu sein besser ist als arm und hässlich. Was musste nicht die Kirche des Mittelalters mit Hölle und Verdammnis drohen, um Menschen diese Denkweise abzugewöhnen. Gelungen ist es ihr nicht. In der Lachesis-Geschichte steckt schon der Gedanke, dass mich gerade auch ein Zuviel, ein vermeintlicher Reichtum, etwas, das auf den ersten Blick äußerst wünschenswert ist, meine Glücksmöglichkeiten ruinieren könnte. In der Lachesis-Geschichte steckt dieser Vorbehalt im Gedanken der Weisheit.
Was wäre, wenn man Tyrann sein könnte, ohne die eigenen Kinder zu fressen, also ohne dass die eigene Lebensweise auf den Täter zurückfällt? Wer so fragt, kann offenbar mit dem antiken Gedanken wenig anfangen, dass nicht nur wir unsere Lebensverhältnisse ändern können, sondern unsere Lebensweise auch uns. Der Weise berücksichtigt das, wenn er sich für etwas entscheidet. Weisheit ist heutzutage zum Rätselwort geworden, von dem niemand mehr so genau weiß, was es bedeuten soll. Die antike Lösung: Der Weise achtet darauf, was seine Wünsche auf Dauer aus ihm machen, und gibt ihnen nicht einfach nach. Das gerade macht Weisheit aus.
Frei sein heißt für Platon, sich für Tugenden entscheiden können. Es ist schwer geworden, sich die Entscheidung für Tugenden heute vorzustellen. Was wir uns vorstellen können, ist die Entscheidung für einen Beruf, einen Ehepartner, einen Wohnort, für oder gegen Kinder. Aber für eine Tugend? Um die geht es allerdings, denn die anderen Dinge wie etwa Beruf, Wohnort, Ehepartner, Kinder, gerade die Entscheidungen, die wir heute als besondere Domäne der individuellen Freiheit betrachten, gehören mit den Augen des klassischen Griechenland gesehen ins Areal des Schicksals. Wir werden zu dem, was unsere Entscheidungen aus uns machen. Unsere Entscheidungen werden zu unserem Schicksal.
Ein kurzer Blick auf die später von Aristoteles empfohlenen Tugenden: Er empfiehlt, bestimmte Haltungen zu kultivieren, Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Eigentlich kein schlechter Vorschlag. Man wünscht sich heute bei vielen Gelegenheiten, bei denen Menschen miteinander zu tun haben, mehr davon. Weniger Aufgeregtheit, weniger selbstgerechte Egozentrik, weniger Konformismus, mehr Fairness. Die Liste wünschenswerter Tugenden lässt sich verlängern und leider auch die Liste der Gelegenheiten, bei denen sie fehlen. Man hat den Eindruck, dass unsere Gesellschaft auch heute mit einer weiteren Verbreitung klassischer Tugenden besser dran wäre. Wenn man genau hinschaut, scheint die Forderung, Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit zu kultivieren, nicht einfach nur eine Forderung nach einem noch stärker angepassten Verhalten zu sein. Wenn sich frei zu entscheiden nur hieße, sich an äußere Forderungen anzupassen, wäre das mit dem modernen Freiheitsverständnis völlig unvereinbar. Aber ganz so klar ist das nicht. Wer sich anpasst, erfüllt einfach nur äußere Forderungen. Wer dagegen im klassischen Sinn tugendhaft handelt, macht etwas anderes. Nehmen wir als Beispiel die Besonnenheit. Der Besonnene ist nicht einfach nur der Schweiger, der sich zurückhält, weil man das von ihm erwartet und der redet, wenn man es ihm erlaubt. Wenn er sich besonnen hat und zum Schluss kommt, dass Einwände nötig sind, wird er idealerweise zum Nonkonformisten, der sich gut begründet äußert. Vielleicht kann man das so formulieren: Unter Tugenden versteht die Klassik individuelle Beiträge zum Leben einer Gemeinschaft, die beides, das eigene Leben und zugleich die Gemeinschaft von innen heraus besser machen. In der Antike sind Tugenden keine Pflichten. Der Kriegsdienst mag antike Pflicht sein, Tapferkeit ist eine Tugend. Die Klassik geht dabei davon aus, dass Gemeinschaften, die nicht kurz vorm Zusammenbruch stehen, tugendhaftes Verhalten entsprechend anerkennen. Ruhmsucht allerdings gilt nicht als tugendhaft.
Und was hat das mit Freiheit im modernen Sinn zu tun?
Seid vernünftig! - Freiheit von Leiden als Stoische Autarkie
Mark Aurel, römischer Kaiser und bedeutender Vertreter der jüngeren Stoa, schreibt in seinen Selbstbetrachtungen:
„Denke daran, dass deine herrschende Vernunft, wenn sie, in sich selbst gesammelt, sich selbst genügt und nichts tut, was sie nicht will, unüberwindlich wird, auch wenn sie einmal ohne genügenden Grund Widerstand leistet. Wie viel mehr also dann, wenn sie mit Grund und mit Bedacht über etwas urteilt? Deshalb ist die denkende Seele, von Leidenschaft frei, gleichsam eine Festung. Denn der Mensch hat keine stärkere Schutzwehr, wohin er seine Zuflucht nehmen konnte, um fortan unbezwinglich zu sein. Wer nun diese nicht kennt, ist unwissend; wer sie aber kennt, ohne zu ihr seine Zuflucht zu nehmen, ist unglücklich.“
Freiheit vom Mitmenschen...
„Für meine Willensfreiheit ist die Willensfreiheit meines Nebenmenschen ebenso gleichgültig wie sein ganzes geistiges und leibliches Wesen; denn sind wir auch in ganz besonderem Sinne füreinander geboren, so haben doch die in uns herrschenden Kräfte ihr eigenes Gebiet.“
Freiheit von sich selbst...
„Der fleht: Wie erlange ich doch die Gunst jener Geliebten? Du: Wie entreiße ich mich dem Verlangen danach? Der: Wie fange ich‘s an, um von jenem Übel frei zu werden? Du: Wie fange ich‘s an, um der Befreiung davon nicht zu bedürfen? Ein anderer: Was ist zu tun, das ich mein Söhnchen nicht verliere? Du: Was ist zu tun, dass ich seinen Verlust nicht fürchte?“
Geht auf Distanz zu den eigenen Leidenschaften, selbst zu denen, die ihr für eure wertvollsten haltet, so die Stoa. Ihr erspart euch großes Leid und große Enttäuschungen. Und es sind wirklich die eigenen Leidenschaften, nicht die fremdbestimmten, aufgesetzten, entfremdeten Wünsche, denen gegenüber eine Haltung der Distanz gefordert wird. Eingefordert wird – äußerst widersprüchlich – wirklich ein Stück Selbstverzicht, um sich selbst zu verwirklichen. Distanz zu den eigenen Leidenschaften, ist dann auch ein Stück Distanz zu sich selbst und zu den Mitmenschen, ein Stück Autarkie und persönliche Unabhängigkeit. Aber dieses Klima der Distanz, des sich Ablösens und sich unabhängig Machens und der Negation ist die Luft der Freiheit, in der die Tugenden gedeihen sollen.
Auch moderne Freiheitsvorstellungen werden diese stoische Fußnote der Selbstüberschreitung nicht los, das Moment des befreienden Bruchs mit etwas. Das Bersten von Ketten bleibt von nunan der Ton der Befreiung. Für die Stoa ist das ein Sprengen der inneren Ketten, das den Höllenlärm der Leidenschaften verstummen lässt.
Im Grunde ist der Begriff der Freiheit der Problemtitel für die beiden großen Herausforderungen, die sich in jedem menschlichen Dasein geltend machen: Seine doppelte Verwiesenheit an die Natur und an andere Menschen.
Der stoische Reflex darauf ist unter anderem ein Autarkiephantasma. Es drückt sich in der Forderung aus, gegenüber beiden Verwiesenheiten auf Distanz zu gehen.
Der christliche Reflex fällt bekanntlich ganz anders aus. Mit dem Gottesbegriff wird eine Position gedacht, die der Verwiesenheit an die Natur und an andere Menschen schlichtweg enthoben ist. Gott steht darüber, und Gott ist frei. Rein gedanklich ist es gar nicht so leicht, den Antinomien aus dem Weg zu gehen, die sich dabei ergeben. Aber das Denken bereitet sich dabei nach und nach auf die beiden Hauptthemen der europäischen Kulturgeschichte vor: das Soziale als hierarchische Ordnung zu verstehen und das Naturverhältnis des Menschen als Naturbeherrschung zu denken. Zentral wird auch dabei die Frage der Willensfreiheit. Der Freiheitsbegriff verdoppelt sich in die autarke, unbedingte und leidlose Freiheit Gottes und die bedingte, leidvolle Freiheit des Menschen. Am Ende wird nach dem Schritt in die Neuzeit nur die bedingte Freiheit des Menschen übrig bleiben, aber sie wird die Große Freiheit Gottes, ihre göttliche Reeperbahn nie vergessen. Der Wunsch nach Freiheit wird anfällig für große Versprechungen und für Selbstüberschätzungen aller Art.
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